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TSS Story bei Germanrock e.V.

 

05. 05. 2007
mit ausführlicher Kritik zur TSS Box

Die
TON STEINE SCHERBEN
Story

„Sau- sau-, saubillig“ klingt es einem seit Wochen in den Ohren. Die Werbung eines Elektronikmarktes mit der Melodie von Rio Reisers Hit König Von Deutschland ist nicht nur saunervig, sie ruft auch viele Hüter der political correctness auf die Plan. Hat doch eben jener Sänger Anfang der 70er Jahre mit der Band Ton Steine Scherben noch Parolen ausgegeben wie Macht Kaputt, Was Euch Kaputt Macht oder Keine Macht Für Niemand. Die Scherben waren die deutschen Anarcho-Rocker schlechthin, aber sie haben sich in den 15 Jahren ihrer wechselvollen Geschichte von der reinen Agitrockband zu einer vielschichtigeren, später gar mystischen Truppe weiterentwickelt.


„Wir wollten nicht nach oben, wir wollten Oben und Unten abschaffen!“

Ende April 1986 auf einem Flohmarkt in Hannover: Zwischen all den gestylten, hässlichen 80er Jahre LPs kommt ein dicker, weißer Wellpappkarton zum Vorschein, hier und da ist er schon ein wenig angegammelt, aber die Aufschrift ist eine Verlockung: Keine Macht für Niemand und weiter unten: Ton Steine Scherben. Das Vinyl sieht ok aus, der Verkäufer lässt sich auf vergleichsweise läppische 11,- DM runterhandeln und der Käufer - der natürlich der Autor dieser Zeilen ist - weiß genau: Diese Doppel-LP muss es sein! Längst war er unter dem Deckmantel einer evangelischen Jugendgruppe in diesen so friedensbewegten Zeiten von einigen Mitgliedern einer sehr wilden Kommune agitiert worden. Was sie über Bakunin, Proudhon und Kropotkin referierten, war einleuchtend und überzeugender, als was Jusos, SDAJ, DFU und andere, die sich für links hielten, im Angebot hatten. Ganz zu schweigen von den christlichen Friedenstauben- Trägern, den Wollsocken-Ökos und Lila-Windeln-um-den-Hals-Trägern die waren nicht nur dogmatisch, moralisch und so bodenlos unerotisch, auch ihre Musik von Hannes Wader bis Ina Deter war einfach grauenvoll. Die Anarchos waren unorthodox nicht nur in ihrer Theorie und sie bespielten einem, wenn man Glück hatte, Kassetten mit ihrem Soundtrack zum Widerstand: Ton Steine Scherben. Das klang kämpferisch und romantisch, direkt und mysteriös, politisch und sexy. Dass die revolutionärsten Stücke bereits über 15 Jahre alt waren, die Band sich gar 1985 aufgelöst hatte und ihr Sänger schon bald als Popstar Karriere machen sollte, interessierte nicht. Wir waren jung und brauchten die Revolution!

Wenige Tage nach diesem Glückskauf das Objekt meiner Liebe ist inzwischen in absolut desolatem Zustand noch immer in seinem Besitz gibt es im ukrainischen Tschernobyl eine kleine technische Panne mit den bekannten Folgen, was sicher nicht in einem kausalem Zusammenhang zur Musik steht, aber was beim Hören von Songs wie Wir Müssen Hier Raus oder Die Letzte Schlacht Gewinnen Wir noch einmal klar werden lässt: Die Welt muss verändert werden und zwar radikal. Dazu kommt, dass Rio Reiser, der Ex-Sänger der Scherben, just zu dieser Zeit mit seinem Hit König von Deutschland aus jedem Radio tönt. Gründe genug, um herauszufinden, wie dieses ganze Geschichte eigentlich angefangen hatte.

Exit Hendrix, Auftritt Ton Steine Scherben

Am 6. September 1970 geben Ton Steine Scherben ihr erstes Konzert bei einem Open Air Festival auf Fehmarn. Das Wetter ist katastrophal und die Organisation erst recht. Genau genommen waren auch nicht Ton Steine Scherben ein-geladen worden die hatten gerade die ersten 1000 Stück ihrer in Eigenregie veröffentlichten Debütsingle vom Presswerk bekommen und so kannte sie logischerweise noch keiner zu diesem Zeitpunkt sondern die Theatergruppe Rote Steine.

Durch deren Auftritt könnte die ganze Veranstaltung steuerlich günstiger abgewickelt werden. Vor Ort haben die Theaterleute aber keine Lust mehr zu spielen und da Ton Steine Scherben sowieso die Musik zu ihren Stücken beisteuern, spielen diese dann eben allein zum ersten Mal gleich vor rund 50.000 Leuten (manche Quellen sprechen auch von 100.000).

Die Roten Steine hatten sich aus dem Hoffmann Comic Teater (absichtlich ohne „h“ geschrieben) entwickelt, zu dessen Stamm die Geschwister Gert und Peter Möbius gehören. Ihr jüngster Bruder Ralph, der am 9. Januar 1950 in Berlin geboren wurde, und sich offiziell erst ab 1978 Rio Reiser nennt, hatte schon mehrfach mit den politischen Theatergruppen zusammengearbeitet. Er steuerte Musik und Texte zu diversen Stücken bei und komponierte mit Robinson 2000 bereits 1967 so etwas wie eine erste deutsche Beat-Oper, der allerdings kein großer Erfolg beschieden war.

Die Truppe von 28 (!) Leuten, die sich aus Berlin auf nach Fehmarn zum „Festival der Liebe“ (Mitveranstalterin war die deutsche Porno-Queen Beate Uhse) macht, ist ein bunter Haufen, was vor allem daran liegt, dass sich die Roten Steine als Lehrlingstheater versteht, das gezielt proletarische Jugendliche ansprechen will. Es geht vor allem darum, diese Zielgruppe zum improvisierten Mitspiel zu motivieren, um ihnen so ihre Lage politisch bewusst zu machen. Wer Talent, Interesse oder einfach Spaß daran hat, der bleibt einfach dabei und fährt mit. Auch die Musiker, die zur ersten Scherben-Besetzung gehören, sind zuvor alle bei Hoffmann Comic Teater (HCT) aktiv gewesen. Neben Sänger Rio Reiser, der auch Gitarre und Klavier spielt, sind das der Gitarrist R.P.S. Lanrue (bürgerlich: Ralph Peter Seitz, geboren am 14. Januar 1950 in Grenoble), Bassist Kai Sichtermann (*1951) und als Schlagzeuger Wolfgang Seidel, mit 21 Jahren nicht nur der älteste in der Band, sondern nach damaliger Gesetzeslage auch der einzige Volljährige. Darüber hinaus hatte man außer den Instrumenten noch ein Stromaggregat und eine Druckmaschine, die bei der Kommune 1 übrig gewesen war, eingeladen. In der Regel wird diese Maschine genutzt, um Raubdrucke von Büchern herzustellen, was für eine ganze Reihe der Beteiligten den Broterwerb sicherstellt. (Fairerweise sollte man aber erwähnen, dass nicht aktuelle Bestseller, sondern in der Regel nicht mehr verfügbare theoretische Klassiker gebootlegt wurden!)

Auf der Ostseeinsel sollte die betagte Maschine Agitationszwecken dienen. Die Band spielt also einen Set von drei Songs und Rio fordert dazu auf, den Veranstalter „ungespitzt in den Boden zu hauen“. Dieser hatte sich nämlich inzwischen mit den Eintrittsgeldern aus dem Staub gemacht, so dass viele angekündigte Bands gar nicht mehr auftreten. Am Vorabend hatte Jimi Hendrix allerdings noch ein letztes Mal gespielt - zwölf Tage später ist er tot. Als die Scherben nach ihrem Auftritt die Flucht ergreifen, kommt ihnen die Feuerwehr entgegen das Publikum hat ihren Song Macht Kaputt Was Euch Kaputt Macht offensichtlich so interpretiert, dass die Bühne auf jeden Fall abgefackelt gehört. So etwas bezeichnet man wohl als bestandene Feuertaufe.

Musik ist eine Waffe

Neben den beiden Songs der ersten Single Macht Kaputt Was Euch Kaputt Macht und Wir Streiken spielen die Scherben außerdem ihr Lied Solidarität, das schon in einer frühen Version aufgenommen, aber noch gänzlich unveröffentlicht ist. Viele der frühen Scherben-Songs sind direkt aus den vorhergehenden Theater-Produktionen entnommen. So stammt Macht Kaputt Was Euch Kaputt Macht aus einem Stück namens Rita & Paul vom HCT. Die Herkunft des Titel-Slogan ist ungeklärt, Ensemble-Mitglied Norbert Krause hatte ihn aufgeschnappt. Den Rest des Textes schreibt Rio, der sich dabei von Bob Dylans Subterreanean Homesick Blues inspirieren lässt. Allerdings finden sich auch recht frei übersetzt keine ent-sprechenden Zeilen bei Dylan, es ist wohl eher die reduzierte, stichwortartige Form, mit der die Wörter aneinander gereiht werden. In diesem frühen Stadium ist der Song noch ein wenig langsamer gesungen als später, der Aufbau um das charakteristische Riff aber nahezu identisch. Für das erste Album entscheidet man sich später für eine neu eingespielte Live-Aufnahme, bei der der Song direkt in das Einheitsfrontlied von Bertolt Brecht und Hannes Eisler („Und weil der Mensch ein Mensch ist...) übergeht, das die Scherben in den ersten Jahren häufig als Zugabe spielen. Obwohl Rio Reiser mit dem Text recht frei umspringt (aus „Essen“ wird „Fressen“, aus „Arbeiter“ „Arbeiterklasse“ usw...) ist diese Version die bis heute (ein)drucksvollste dieses Kampflied-Klassikers. Seltsamerweise wird aber in ausnahmslos allen LP- und CD-Credits konsequent verschwiegen, dass man sich diesen Teil von Brecht „borgte“. Die B-Seite der Single Wir Streiken erschien erstaunlicherweise auf keiner Scherben-LP, sondern wird erst auf den Compilations Auswahl I und Was Bleibt wiederveröffentlicht, obwohl ein klassischer Kampfsong, der dem Selbstverständnis der Agitrockband inhaltlich wie formal perfekt steht.

Mit dem Begriff Agitrock finden Ton Steine Scherben ein Attribut, das sie zutreffend charakterisiert. Der Bandname - dem in der Entstehung zunächst noch ein VEB vorangestellt war, von dem man sich aber schnell verabschiedete geht auf den Archäologen Heinrich Schliemann zurück, der Troja ausgrub. Auf die Frage, was er gefunden hatte, soll er „Ton, Steine, Scherben“ geantwortet haben, andererseits ist eine Anlehnung an den markanten Gewerkschaftsnamen Bau-Steine-Erden unübersehbar. Agitrock aber ist die konsequente Weiterentwicklung der Begriffe Agitprop (Agitation und Propaganda), das häufig als Agitpop, also populär und somit das Gegenteil von konsum- und gesellschafts-kritisch missverstanden wird, und Acidrock.


Die Waffe der Scherben aber ist Rockmusik und über deren politische Wirksamkeit verfassen sie ein Manifest, das den unmissverständlichen Titel Musik Ist Eine Waffe trägt. Dort heißt es unter anderem:
„Musik kann zur gemeinsamen Waffe werden, wenn du auf der Seite der Leute stehst, für die du Musik machst! (...)

Musik kann also zur Waffe werden, wenn du mit ihr die Ursachen deiner Aggressionen erkennst. Wir wollen, dass du deine Wut nicht verinnerlichst, dass du dir darüber klar wirst, woher deine Unzufriedenheit und deine Verzweiflung kommen. Wir wollen die Feinde des Volkes nennen. ‚Macht kaputt, was euch kaputt macht zerstört das System, das euch zerstört!’ Unsere Musik soll ein Gefühl der Stärke vermitteln.

Unser Publikum sind Leute unserer Generation: Lehrlinge, Rocker, Jungarbeiter, ‚Kriminelle’, Leute in und aus Heimen. Von ihrer Situation handeln unsere Songs.

Lieder sind zum Mitsingen da.

Ein Lied hat Schlagkraft, wenn es viele Leute singen können. Unsere Lieder sind einfach, damit viele sie mitsingen können. Wir brauchen keine Ästhetik, unsere Ästhetik ist die politische Effektivität. Unser Publikum ist der Maßstab, nicht irgendwelche ausgeflippten Dichter. Von unserem Publikum haben wir gelernt, Lieder zu machen, nur von ihnen können wir in Zukunft lernen, Lieder für das Volk zu schreiben. Wir sind in keiner Partei und in keiner Fraktion. Wir unterstützen jede Aktion, die dem Klassenkampf dient. Egal, von welcher Gruppe, sie geplant ist. (...)“ (nach Sichtermann, S. 41ff.)

Wolfgang Seidel schreibt: „Wir wollten nicht nach oben. Wir konnten das gar nicht wollen, denn wir waren angetreten, mit unserer Musik dazu beizutragen, dass es kein Oben und Unten mehr geben würde“ (Seidel, S. 27)
Aus diesem Ansatz spricht natürlich der Aufbruchsgeist einer Zeit, in der viele überzeugt waren, die westdeutsche Arbeiterschaft sei zu einer revolutionären Masse agitierbar. Auch die sich formierende RAF oder Bewegung 2. Juni, die nicht Musik sondern reale Waffen gebrauchen, finden ihren Ausgangspunkt in der Überzeugung, die Bevölkerung würde ihr Ausgebeutetsein erkennen und sich mit den Kämpfern gegen den Staat solidarisieren. Wir wissen, wie diese Geschichte verlief, aber die Konflikte, die damit einhergehen, sind für die Bandgeschichte von Ton Steine Scherben von Anfang an maßgeblich und wahrscheinlich für viele Dilemma, in die die Band immer wieder gerät, entscheidend. Die Auseinandersetzung mit dem Staat, der mittels Haussuchungen, Telefonüberwachung, Beschlagname der harmlosesten Gegenständen (Spielzeugwurfschleudern oder Autowerkzeug, das angeblich Einbruchsgerät sein soll) und anderer Schikanen präsent ist, nimmt niemals wirklich bedrohliche Züge an.

Die Scherben haben zu kämpfen, jeder Auftritt in der Bundesrepublik ist mit endlosen Zollkontrollen beim Transit durch die DDR verbunden anfangs durch die ost-, später vornehmlich durch die westdeutschen Zöllner. Ab und zu findet ein sehr aufmerksamer Beamter eine unerhebliche Menge Drogen oder etwas, dass man ohne Bezahlung aus einem Supermarkt mit-genommen hatte. Rio Reiser beschreibt in seiner Autobiographie, wie er stets seinen Personalausweis mit auf sein Hochbett nimmt und Übernachtungsbesuch nahe legt, dasselbe zu tun. So kann er dem ungebetenen, uniformierten Überraschungsgast, der nicht wissend, was ihn oben erwartet, wenn er bei einer der regelmäßigen Razzien die Leiter zum Bett hoch geschickt wird, beschwichtigen. Einer Strafverfolgung im eigentlichen Sinn aber sind die Bandmitglieder nie ausgesetzt, teils vielleicht aus Geschick und Glück, teils aber auch, weil sie sich eben immer zuerst als musizierendes Kollektiv und nicht als kriegerische Einheit sehen.

Ein Millionär namens David Volksmund

Mit ihrem Manifest haben sie sich aber in eine ganz andere, fatalere Zwickmühle begeben. Sie haben sich ja offen angeboten, für jede Aktion und jede Gruppierung im Klassenkampf zur Verfügung zu stehen. Die Folgen sind nicht nur, dass sie auf unzähligen Benefizveranstaltungen spielen „müssen“, sondern auch, dass sie dafür nicht bezahlt werden - es dient ja der gerechten Sache!

Diese Band ist aufgrund ihres einzigartigen Status unter wirtschaftlichen Aspekten ein absolutes Bankrottunternehmen. Auftritte sind mit Kosten verbunden, die selten gedeckt werden. In der linken Szene ist man der Meinung, dass eine Band, die ihre Ziele so klar formuliert hatte, keine Gage bekommen müsse. Überhaupt zahlt man nur sehr widerwillig Eintrittsgeld für Konzerte, häufig werden einfach die Eingänge gestürmt und man lässt sich umsonst beschallen. Statt 3,50 etwa 5,- DM Eintrittsgeld zu fordern, kommt einer Konterevolution gleich. Dass die Musiker über lange Jahre oft nicht mal genügend Geld haben, um sich etwas zu essen zu kaufen, interessiert keinen. Sobald Ton Steine Scherben versuchen, halbwegs kosten-deckend zu spielen, sind die Rufe von Verrat und Abgehobenheit groß. Umso tragischer, dass die Band in späteren Jahren, als sie sich endlich aus dem Teufelskreis von politischen Anspruch und Wirklichkeit freizuschwimmen scheint, dann wirklich an unrealistischen Kalkulationen zu Grunde geht.

Zur Zeit Anfang der 70er Jahre sind diese Vorwürfe allerdings völlig haltlos und man versucht das Minus, das die Konzerte einbringen, durch Plattenverkäufe zu kompensieren.



Denn ein Plattenvertrag bei der Industrie steht natürlich nicht zur Debatte, man ist sein eigenes Label und Vertrieb zugleich. Durch die Raubdrucke bestehen gute Kontakte zu linken Buchläden und über diese Wege werden zunächst auch die Schallplatten an die Frau und den Mann gebracht, bevor man später federführend bei der Gründung der ersten unabhängigen Musikvertriebe in Deutschland (April, Schneeball, EFA, Indigo) mitwirkt. Es wäre auch fraglich, ob eine der renommierten Plattenfirmen in Deutschland diese Band gesignt hätte. So entsteht auch aus der Notwendigkeit heraus die David Volksmund Produktion und mit ihr eine Idee, die sich im folgenden Jahrzehnt unter dem Namen Independent vom (kultur)politischen Statement zur inhaltsleeren Genre-Schublade wandeln sollte.

„David“ war natürlich das Symbol des Kleinen gegen den Großen und der Volksmund sollte schon auf seiner Seite sein. Oft wird der Name aber mit der schönen, leider aber völlig unwahren Geschichte erklärt, David Volksmund sei ein Schweizer Millionär, der die Band fördere. Den hätte sie allerdings gut gebrauchen können, denn finanziell wird Ton Steine Scherben nie auf einen grünen Zwei
kommen. Immer wenn es beginnt, etwas rosiger auszusehen, gibt es herbe Rückschläge. Mal wird gleich eine ganze Wagenladung Schallplatten während einer Tour gestohlen, ein anderes Mal kommen rund 20.000 illegale Nachpressungen der Debüt-LP in den Handel (was angesichts der oben beschrieben Anschubfinanzierung vielleicht noch als „faire Rache“ zu sehen ist), für die die Band aber natürlich keinen Pfennig sieht. Einige Male setzen die Freaks aber einfach auch die falschen Menschen an neuralgische Tätigkeitsbereiche.

Aber nicht nur veröffentlichungstechnisch sind Ton Steine Scherben Pioniere außer den hippiesken Ihre Kinder, den Liedermachern oder den deutlich theatralischen Floh de Cologne gibt es keine deutschsprachige Musik der Jugend - und schon gar nicht keine, die der politischen Stimmung Ausdruck verleiht und gleichzeitig so grandios rotzig, rockig und sexy ist, dass man sie mit den Rolling Stones auf eine Stufe stellen kann. Bestenfalls Checkpoint Charlie sind in diesem Zusammenhang mit zu berücksichtigen, aber Deutschrock ist im Grunde genommen eine Erfindung der Scherben, die zunächst Udo Lindenberg und dann viele nach ihm, zu dem machten, wo für dieser Begriff heute steht. Erst als rund zehn Jahre nach Gründung von Ton Steine Scherben der Punk auch nach Deutschland schwappt, gibt es erste Bands, die in der Radikalität ihrer Inhalte und Formen in der Kontinuität von Ton Steine Scherben gesehen werden können, nur das diese nicht unbedingt agitatorisch veranlagt sind. Was dabei ebenso oft übersehen wird, ist, dass die Scherben spätestens ab ihrer zweiten LP genauso für Poesie und Liebeslieder abseits jeglicher kitschiger Klischees stehen, bevor sie später gar die als Mystiker in Erscheinung treten.
Davon sind Rio Reiser, RPS Lanrue, Kai Sichtermann und Wolfgang Seidel anno 1970 allerdings weit entfernt. Noch im September läuft in der ARD ein Film über die politische Linke, zu der die erste Scherben Single den Soundtrack liefert, was der Nachfrage enorm auf die Sprünge hilft selbst angesichts des unorthodoxen Vertriebsweges über die Buchläden. Die Band gibt erste Konzerte in verschiedenen Läden in Berlin und ab Frühjahr 1971 auch in Westdeutschland. Um die Organisation kümmert sich Rios älterer Bruder Gert Möbius, der bald von Nikolaus „Nikel“ Pallat unterstützt wird. Nikel hatte die Band bereits auf Fehmarn gesehen und kreuzt irgendwann bei ihnen in Berlin auf. Der Vollbartträger, der in seinem weißen Sommeranzug mit einem recht fertigen englischen Sportwagen der Marke Triumph vorfährt, ist wohl alles andere als ein vertrauenserweckender Anblick. Auch seine eigenen Texte, die er unaufgefordert vorträgt, sind es nicht, die ihn zum Manager qualifizieren, sondern wohl eher, dass er als Mitarbeiter bei einem Steuerberater etwas vom Umgang mit Geld versteht. Hinzu kommt, dass er so als einziger einen bürgerlichen Beruf nachgeht, der für verlässliche, regelmäßige Einnahmen sorgt. Aber auch seine textlichen und musikalischen Beiträge werden hier und da eine Rolle bei Ton Steine Scherben spielen, so dass er als das fünfte Bandmitglied anzusehen ist.


Warum Geht Es Mir So Dreckig? (1971)

Bereits Ende 1970 beginnen die Scherben mit den Aufnahmen zu ihrer ersten LP Warum Geht Es Mir So Dreckig? in einem Jugendzentrum in Berlin Borsigwalde. Ihr Equipment ist schlicht und ergreifend schlecht, die Aufnahmen entsprechend, so dass sie lange Jahre unveröffentlicht bleiben. Erst 1981 auf Auswahl I gibt es die Aufnahme von Mein Name Ist Mensch und 2006 auf der CD Was Bleibt die erstaunlich gut restaurierten - Versionen vom Titelsong und Sklavenhändler zu hören. Ersteres wurde sogar einmalig beim Sender Freies Berlin ausgestrahlt und erinnert in dieser, verschleppten „Doom-Version“ ein wenig an Heavy Rock á la Black Sabbath oder Black Widow.
Die deutlich drogenverherrlichende Zeile „Ich möchte nur Musik hören und nur noch Farben sehen“ aus der letzten Strophe wird später gestrichen, als für die LP die Stücke noch einmal neu aufgenommen werden. Die A-Seite der LP Warum Geht Es Mir So Dreckig? wird live bei einem Konzert am 3. Juli 1971 in der Alten Mensa der Technischen Universität

mitgeschnitten, die anderen vier Songs werden im Tonstudio Admiralstrasse von Klaus Freudigmann aufgenommen. Nach dem Konzert in der TU kommt es zur einer der ersten Hausbesetzungen in West-Berlin, vielleicht sogar zur allerersten in der BRD überhaupt, auf jeden Fall sollte es nicht die letzte im Anschluss an einen Scherben-Gig bleiben!

Für das Cover werden einfach braune Pappen mit Band- und LP-Namen sowie dem David Volksmund Logo (mit einer Steinschleuder) bedruckt. Die Rückseite bildet ein gleich großes, völlig unbedrucktes Stück derselben Pappe (Songtitel oder ähnliches sucht man vergebens). Nächtelang werden die Cover eigenhändig zusammen getackert und mit den LPs bestückt. Wolfgang Seidel schreibt später: „Das hatte etwas Rohes, Unfertiges. Die Hülle war wie ein Werkstück, während andere Plattencover ihren Warencharakter verschleiern und suggerieren, sie wären für die Ewigkeit geschaffene Kunstwerke. Und das Ding fiel in jedem Plattenstapel auf. Selbst wenn man nicht hinsah, denn beim Blättern stach man sich unweigerlich an den Heftklammern. Leider ist von dem Charme, den das Original-Cover hatte, in der CD-Neuauflage nichts geblieben.“ (Seidel, S. 83) Die aktuelle Version in der Gesamtwerk Box kommt dem Original wieder näher und enthält auch einen Nachdruck des ursprünglich beiliegenden Posters mit der zerbrochenen Debüt-Single, allerdings fehlen die Heftklammern. Das Motiv für das Poster, das zu einem Bandlogo mit hohem Wiedererkennungswert wird, entsteht wie so vieles aus einer konkreten Situation heraus: Rios Freund Raymond Fleschner hatte die Single seinem Schwager vorgespielt, der offensichtlich wenig davon verstand, was mit Macht Kaputt, Was Euch Kaputt Macht gemeint war. Er machte statt dessen die Single kaputt, die Raymond in Einzelteilen wieder mit zurückbrachte. Die Band greift die Idee sofort auf, zerbricht noch ein paar weitere Scheiben, bis die Bruchstellen optisch optimal sind, und nimmt die Scherben (sic!) als „Trademark“.

Es lebe die Anarchie!

Musikalisch ist Warum Geht Es Mir So Dreckig? sicher keine Meisterleistung, die technischen Fähigkeiten der Truppe sind ausbaufähig, wie sich später zeigen wird. Viele etikettieren diese LP als erste deutsche Punk-Platte, was aufgrund ihrer rohen Direktheit nicht ganz abwegig ist, inhaltlich aber den Kern der Sache nicht trifft. Schon eher passende Vergleiche sind zu einzelnen Songs ausländischer Bands und Künstler möglich: wenn man so will haben die Scherben eine deutschsprachige Entsprechung dessen geschaffen, was mit Dylans Masters Of War begann, mit Street Fighting Man von den Rolling Stones weitergeführt wurde und bei den Stooges, Edgar Broughton Band oder MC5s mit Kick Out The Jams vorerst endet.

Der Sound der ersten LP, die natürlich auch alles andere als optimal aufgenommen ist, transportiert die emotionale Ebene der politischen Texte: Wut, Aggression, Wille zur Veränderung. Diese Platte signalisiert: Wir haben nicht nur die Schnauze voll, wir haben auch den Mut und die Kraft, die Verhältnisse zu ändern.

Wir wissen, was schief läuft und wir haben bessere Konzepte als den Kapitalismus. Die Scherben haben sich nie explizit einer linken Organisation zugehörig gezeigt, erst recht nicht aus dem real existierenden Sozialismus. Viele Texte sind - aus dem Zusammenhang gerissen weiter auslegbar, was das Beispiel der faschistischen Band Landser zeigt, die tatsächlich meinen, sich einen Song wie Allein Machen Sie Dich Ein zu Eigen machen zu können. Im Kontext des Gesamtwerks und der Begleitumstände ist aber klar, dass der Gegenentwurf nur Anarchie heißen konnte, auch wenn dieses Wort ebenso wenig konkret genannt wird. (In diesem Zusammenhang muss unbedingt darauf hingewiesen werden, dass die heute gern benutzte Reduzierung des Begriffes Anarchie auf Chaos oder den Zustand unklarer Regierungsverhältnisse zu Zeiten von Umstürzen im Grunde genommen eine Verkehrung des ursprünglich Gemeinten darstellt. Anarchismus ist eine wohl durchdachte Theorie und Anarchie eine Gesellschaftsform, in der nicht via Gesetz und Macht sondern via Vernunft und Einsicht Entscheidungen getroffen werden. Es gibt dazu einige, leider fast vergessene theoretische Werke, aber auch historisch belegbare Beispiele. Eine lange, tragische Geschichte!)

Musik für die direkte (Re)aktion

Mittlerweile ist auch einiges Medieninteresse an Ton Steine Scherben entstanden und es gibt neben den vielen Radiosendern, bei denen sie auf der so genannten „schwarzen Liste“ stehen ob die real oder nur fiktiv im Kopf der zuständigen Redakteuren existieren, sei dahin gestellt immer wieder Journalisten, die sich trauen, über die Scherben zu berichten und ihre Musik zu spielen. Albrecht Metzger vom Süddeutschen Rundfunk (später beim Rockpalast) ist so jemand, dem man mit der Reihe Jour Fixe ein Format zugestanden hat, mit dem der Sender ganz im Sinne Willy Brandts „mehr Demokratie wagen“ wollte. Metzger dreht gleich eine ganze Reihe von Filmen zu Songs von den Scherben, wobei mit Allein Machen Sie Dich Ein bereits ein erster Song der zweiten LP aufgenommen wird. Das Stück heißt zunächst Organisationssong und wird im Juli 1971 live zusammen mit den Besetzern eines Jugendzentrums, über das der TV-Beitrag geht, eingespielt. Diese Aufnahme erscheint nur auf der zweiten Single der Scherben, die als Flexidisc und unter der Bezeichnung Ton Steine Scherben & Jugendzentrum Berlin erscheint. Die Band hat mittlerweile eine Maschine zur Pressung dieser Folien-Singles (den frühen Vorläufern der heutigen CD-Beilagen in manchen Heften) erstanden, die zwar keine tolle Qualität gestattet, mit der aber sehr schnell und völlig eigenständig Musik veröffentlicht werden kann. Die B-Seite der Scheibe ist eine weitere Kooperation, dieses Mal von Ton Steine Scherben & Frauenbefreiungsfront. Der Song wird von den zufällig im Studio anwesenden Frauen gesungen und zusammen mit zwei weiteren Stücken für den Film Eine Prämie Für Irene von Helke Sander verwendet. Wie das Stück wirklich heißt, steht nicht ganz fest: neben Wir Warn Blöd So Lang Zu Jammern (Frauenbefreiungsfront) und Frauen Gemeinsam Sind Stark (Frauenpowersong) hat sich für die Single der Titel Jetzt Ist Feierabend etabliert. Verständlicherweise haben die Scherben das Stück nie live gespielt, es ist jetzt aber ebenso wie die Urversion von Allein Machen Sie Dich Ein ebenfalls auf der CD Was Bleibt zu hören. Zwei alternative Aufnahmen für Fernsehsendungen von 1971 sind auf dem Soundtrack zum Film Der Traum Ist Aus Oder Die Erben Der Scherben (Happy End, 2001) zu hören: Ich Will Nicht Werden, Was Mein Alter Ist (Jour Fixe, SWR) und Macht Kaputt, Was Euch Kaputt Macht (WDR, Herbst 71).

Auch für die Radio Bremen-Kultsendung Beat Club werden Aufnahmen mit den Scherben abgedreht, allerdings nie gesendet. Macht Kaputt... wird in der Fabrik der Deutschen Telefon Werke (DeTeWe) aufgenommen. Für den öffentlich-rechtlicher Sender war die Drehgenehmigung kein Problem, aber die Firmenleitung wurde wohl nicht ganz darüber aufgeklärt, was genau in ihrer Fabrik ablaufen sollte. Die Aufnahmen können sie nicht mehr verhindern, deren Ausstrahlung aber erfolgreich unterbinden.

Auch nicht zu stoppen ist Nikel Pallat, der am 3 Dezember 1971 ein Stück bundesdeutscher Fernsehgeschichte schreibt, die in kaum einen Rückblick auf die Medienereignisse dieser Zeit fehlt. In der WDR-Gesprächsrunde „Pop Und Co Die Andere Musik Zwischen Protest Und Markt“ hat er sich vor allem mit dem dubiosen Rolf-Ulrich Kaiser - dem Gründer das Labels Ohr und Erfinder des unsäglichen Begriffs „Kosmisch“ für elektronische Musik - angelegt. Nach einigen Wortgefechten zieht Nikel ein kleines Hackebeil aus der Jacke und beginnt, auf den Studiotisch einzuschlagen. Die anderen Gesprächspartner ergreifen die Flucht und der Scherben-Manager beginnt die Mikrophone abzubauen und einzustecken. Das ganze geht eine knappe Minute lang live über den Sender, bis die Übertragung unterbrochen wird.

Schwarzfahren am T-Ufer

Nachdem im September 1971 Warum geht es mir so dreckig? erscheint geht die Band mehrfach auf kürzere Touren durch die Bundesrepublik und spielt im Oktober auch erstmals in der Schweiz. Kurz zuvor war Schlagzeuger Seidel von Sven Jordan ersetzt worden der erste von vielen Besetzungswechseln auf dieser Position, während der Rest der Band mit Ausnahme einer zweijährigen Pause von Kai Sichtermann bis zum Ende dabei bleiben sollte. Die Konzerte in der Schweiz enden mit der Ausweisung. Bereits im Juni 1972 spielt Ton Steine Scherben aber wieder dort und neben wenigen Konzerten in Österreich, einem Gig in Polen 1984 und einem TV-Auftritt in Belgien 1977 bleibt die Schweiz das einzige Land außer der BRD inklusive West-Berlin, in dem die Scherben auftreten.
Anfang 1972 erscheint die dritte Single, ebenfalls wieder als Flexidisc. Danach ist allerdings die Pressmaschine kaputt und es dauerte bis 1979 ehe eine weitere Single-Veröffentlichung folgen sollte. Der Anlass dieser zweiten Folien-Scheibe sind die Fahrpreiserhöhungen der Berliner Verkehrs Gesellschaft (BVG), die zu massiven Protesten führen übrigens nicht nur bei Linken und Studenten sondern bei weiten Teilen der Bevölkerung! Die Antwort der Scherben ist der Song Mensch Meier, in dem jener Meier als Schwarzfahrer ein gutes Beispiel für weitere Fahrgäste abgibt. Auch hier ist die B-Seite namens Nulltarif recht skurril, denn sie besteht aus Interviewausschnitten, die Klaus Freudigmann und Rainer März unter Fahrgästen der BVG durchführt. Zu hören ist dabei auch, wie ein Bediensteter der Verkehrbetriebe versucht, die Interviews zu unterbinden, die befragten Mitbürger aber vehement dafür eintreten, ihre Meinung kund tun zu wollen. Auch diese beiden Aufnahmen gibt es erstmalig auf Was Bleibt wieder zu hören.

Inzwischen ist die Band auch zur Kommune geworden. Am Tempelhofer Ufer 32 in Berlin Kreuzberg, direkt am Landwehrkanal hat man eine 8-Zimmer-Wohnung aufgetan, die die nächsten Jahre die Heimat von Ton Steine Scherben bleibt.
Den Bandmitgliedern ist wichtig, nicht nur zusammen Musik zu machen, sondern eine Einheit aus privatem und politischen, Wohnen und Arbeiten zu verwirklichen. Dass dies insbesondere in Zeiten absoluter Geldknappheit nicht immer spannungsfrei ablaufen kann, ist klar, vor allem wenn man seine Bleibe allen möglichen Bedürftigen ebenfalls mit zur Verfügung stellt. Durch die Verbindung zu Jugendzentren und besetzten Einrichtungen spricht sich schnell rum, dass im „T-Ufer“ nicht lange nachgefragt wird, wenn ein jugendlicher Trebegänger eine Übernachtungsmöglichkeit braucht, ent-sprechend häufig wird die Gastfreundschaft angenommen und auch über längere Zeit ausgenutzt. Einer der vorherigen Bewohner der Wohnung war Holger Meins, der inzwischen im Untergrund agierende RAF-Mann. Ob seinet- oder der aktuellen Bewohner wegen regelmäßige Razzien sind garantiert.

Keine Macht Für Niemand (1972)

Ein knappes halbes Jahr nach der Debüt-LP beginnen Ton Steine Scherben Anfang 1972 schon mit der Arbeit an der zweiten Langspielplatte, die - wie die folgenden beiden Platten auch - Doppel-LP-Format erlangen wird. Neben den beiden Single-A-Seiten Allein Machen Sie Dich Ein und Mensch Meier, die beide aber neu eingespielt werden, sind noch einige Songs aus der Frühzeit übrig geblieben. Komm Schlaf Bei Mir wurde schon in Borsigwalde aufgenommen damals angeblich in einer Heavy Metal-Version. Jetzt entsteht ein neues Demo des Stücks, das auch auf der CD Was Bleibt zu hören ist, während der Song für die Doppel-LP noch einmal neu im Hamburger Alsterstudio eingespielt wird. Ebenfalls schon fertig komponiert ist Schritt Für Schritt Ins Paradies. Beide Songs sind allerdings auch aus heutiger Sicht kaum den
bar für die kämpferische Debüt-LP und finden sich folgerichtig auf dem Nachfolger Keine Macht Für Niemand. Diese Doppel LP wird die bis heute erfolgreichste und nach Ansicht vieler auch beste Ton Steine Scherben-Platte überhaupt werden. Auf jeden Fall gelingt der Band der Spagat, die Erwartungen, die Warum Geht Es Mir So Dreckig? geschürt hat, zu befriedigen, sich aber gleichzeitig musikalisch und inhaltlich weiter zu entwickeln. Nach wie vor geben schnelle, aggressive Kampflieder das Tempo vor, aber es finden sich eben auch ruhigere und poetischere Momente. Gerade Komm Schlaf Bei Mir ist ein solcher - im Grunde ein einfaches Liebeslied, das aber eben den Bogen vom Privaten zum Politischen schlägt. Wenn es heißt „Ich bin nicht über dir / Ich bin nicht unter dir / Ich bin neben dir“, dann definiert Rio Reiser in der privaten Beziehung die Ablehnung der Machtausübung, die er sie in anderen Songs explizit politisch formuliert. Reiser selbst, der weder sein Schwulsein, noch seine Vorliebe für sehr junge Proletarier an die große Glocke hängt, scheint es nach Augenzeugenberichten nicht unbedingt so ganz genau mit diesem hehren Ideal genommen haben.

Aber der entscheidende inhaltliche Schritt nach vorne ist der, dass nicht mehr nur Zustände kritisiert werden, sondern auch Utopien entworfen werden. Natürlich gibt es weiterhin Protestsongs, allen voran das Titelstück, das die anarchistische Haltung konkretisiert. Dieser Song ist eine Art „Auftragsarbeit“: mehr oder minder direkt hatte die RAF bei den Scherben angeklopft und einen Song für den bewaffneten Kampf „bestellt“ wie auch immer man sich das vorzustellen hat. Mit dem Ergebnis sind die Kämpfer allerdings wohl nicht sehr zufrieden, in den Kontext der frühen Scherben passt der Song allerdings bestens. Hier wie übrigens im gesamten Œuvre der Band - gibt es allerdings keinen Hinweis, der terroristische Gewalt rechtfertigt. Schritt Für Schritt Ins Paradies ist sicher nicht christlich gemeint obwohl Rio Reiser noch vor seinem Lieblingsautor Karl May die Bibel als seine wichtigste Inspirations-Lektüre sieht und sicherlich in einer sehr unorthodoxen Art als spiritueller Mensch zu begreifen ist. Das Paradies ist hier kein Ort jenseits des Lebens, sondern „die neue Welt“, die es gilt, im Hier und Jetzt zu bauen anzufangen.

Der zentrale und beeindruckenste Song der Platte, wenn nicht Ton Steine Scherbens und Rio Reisers überhaupt, ist Der Traum Ist Aus. Musikalisch ungewohnt, komplex aufgebaut und durcharrangiert komprimiert dieses Stück das Credo der Anarchie in neuneinhalb Minuten. Der Beschreibung der Träume von paradiesischen Zuständen ohne Angst, Krieg, Waffen, Gefängnisse, und so weiter wird Raum und Berechtigung gegeben, um dann im musikalisch deutlich anziehenden Refrain klar zu machen: „Der Traum ist aus / aber ich werde alles geben / dass er Wirklichkeit wird“. Visionen und Utopien bleiben nicht Hirngespinste sondern sind Motivation zum konkreten Handeln, denn weiter heißt es „Gibt es ein Land auf der Erde, wo der Traum Wirklichkeit ist / ich weiß es wirklich nicht / ich weiß nur eins / und da bin ich sicher / dieses Land ist es nicht.“ Diese Zeilen sind auch 1988 noch ein Fanal, als Rio Reiser zum ersten Mal in Ost-Berlin auftritt, und mehrere tausend DDR-Bürgern sie lauthals mitsingen (zu hören auf der Do-CD Rio Reiser - Live in der Seelenbinder Halle). Der Text endet schließlich mit: „Wir haben nichts zu verlieren / außer uns(e)rer Angst / es ist uns(e)re Zukunft / es ist unser Land / gib mir deine Liebe / gib mir deine Hand“ bis heute hat es niemand geschafft, einen poetischeren Aufruf zur Revolution in Form eines deutschsprachigen Rocksongs zu verfassen und es gibt berechtigte Zweifel, ob das jemals gelingen wird!

Musikalisch tritt Lanrue immer stärker in den Vordergrund. Während beim Debüt noch fünf Songs von Rio komponiert wurden und nur die restlichen drei vom Gitarristen stammten, zeichnet er jetzt für zwei Drittel der Musik verantwortlich. Die Texte stammen bei beiden Alben ausschließlich von Rio, mit zwei Ausnahmen: Alles Verändert Sich hatte er zusammen mit seinem Bruder Gert getextet und Paul Panzers Blues ist einer der wenigen Texte von Nikel Pallat, die bei den Scherben unterkommen und die er auch selber vorträgt (die weiteren sind Guten Morgen und Wir Sind Im Licht auf der dritten LP).

Neben den vier Musikern plus Nikel Pallat gibt es auf Keine Macht Für Niemand eine große Anzahl weiterer Gäste, wie beispielsweise die Bewohner des Georg-von-Rauch-Hauses, die „ihren“ Song singen, dem sie zuvor ablehnend gegenüber standen. Sie ändern allerdings die Zeilen „Wenn die das Rauch-Haus wirklich räumen / bin ich aber mit dabei / und hau den ersten Bullen, die da auftauchen / was auf ihre Fingerlein“ in „... und schlag den ersten Bullen, die da auftauchen / ihre Köppe ein“. Rio macht diese Änderung live häufig wieder rückgängig ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Scherben Gewalt gegen Personen nicht propagieren wollen. Jörg Schlotterer, der scherzhaft als „religiöser Berater“ fungiert und Mitbewohner am T-Ufer ist, bläst das Querflötensolo in Der Traum Ist Aus. Die Doppel-LP erscheint im Oktober 1972 im eingangs beschriebenen weißen Wellpappkarton, den Rios Vater Herbert P. Möbius als Verpackungsingenieur entworfen hatte und in den außer den beiden Scheiben noch ein Textblatt und ein Katschi eine Spielzeug-Steinschleuder passt. Nikel hatte 10.000 Plastikexemplare made in Hongkong bestellt, von denen ein Großteil bald nach Lieferung kurzzeitig durch die Berliner Polizei beschlagnahmt wurde Begründung: „illegaler Waffenbesitz“...


Kick Out The Jams, Motherfucker!

Anfang März 72 spielen die Scherben im Vorprogramm der schon erwähnten MC5, was für sie eine günstige Gelegenheit ist, um dringend benötigtes, neues Equipment anzuschaffen. So sollte es nämlich ihr Stammpublikum erst mit einigen Abnutzungserscheinungen zu sehen bekommen, was dessen Argwohn beschwichtigt. Dass hört sich ein wenig abstrus an, aber so werden Ton Steine Scherben zu dieser Zeit tatsächlich beäugt. Viele meinen: Wenn die sich neue Verstärker leisten können, dann sind sie wohl jetzt reiche Stars geworden und nicht mehr „unsere“ Band! Den besten Deal macht dabei nebenbei Rio, der sich eine neue Gitarre auf Raten kauft. Nach der ersten Rate geht allerdings der Musikladen pleite und somit fordert auch keiner mehr die ausstehenden Zahlungen!

Während der folgenden Tour Mitte des Monats wird Drummer Jordan mehr oder minder gefeuert und für das Konzert in Siegen muss Lanrue seinen Platz einnehmen. Der kann zwar Schlagzeug spielen, aber nicht gleichzeitig Gitarre! Kurzfristig springt Wolfgang Seidel für ein weiteres Konzert im Audimax der TU, Berlin wieder ein, bevor dann Olaf Lietzau für die Plattenaufnahmen den Schlagzeughocker übernimmt. Olaf lebt in Hamburg, ist noch nicht volljährig und zum Leidwesen der Band untersagen ihm seine Eltern, weiter bei den Scherben mitzuspielen. Es gibt einige, wenige gemeinsame Konzerte bis Mitte April 1972 in Norddeutschland, bevor Hannes-Jürgen „Captain“ Hynding ihn bis Ende 72 live ersetzt.

Das Jahr 1973 beginnt mit einer legendären Begegnung: An der Tür des Tempelhofer Ufers 32 steht ein Mann mit einem gigantischen dunklen Lockenkopf und bittet um Einlass. Es ist Fußball-Profi Paul Breitner von Bayern München, der für einige Zeit in lockeren Kontakt mit der Band steht, und ein paar Freikarten springen lässt. Wie Rio zitiert auch Paule gerne aus der Mao-Bibel und sympathisiert mit der Haltung der Band. Kaum zu glauben aus heutiger Sicht, wo Breitner als so genannter Fußball-Experte vornehmlich in der Springer Presse gegen aktuelle Spieler und Trainer hetzt...

Für die Konzerte zwischen Februar und Mai 73 gibt es natürlich einen neuen Schlagzeuger. Helmut Stöger, der außerdem von Angie Olbrich (der langjährigen Freundin von Kai Sichtermann und Mutter seiner 1981 geborenen Tochter Lisa) und Anna Schimany an den Percussions unterstützt wird. Auch Schlotterer darf gelegentlich mittrommeln. Die Tour endet in Schwäbisch-Hall mit einem Konzertabbruch, der fast das end-gültige Ende der Band besiegelt hätte. Die Scherben sind ausgebrannt von nach wie vor chaotischen, unprofessionell organisierten Konzertreisen, die zum größten Teil aus Benefiz-Konzerten für diesen oder jenen Zweck bestehen. Die Bedingungen sind katastrophal, es gibt nicht nur keine Gagen, die über pure Kostendeckung hinausgingen, sondern elementare Grundbedingungen wie halbwegs vernünftiges Catering oder Schlafplätze, die nicht über diverse WGs und Kommunen verteilt sind, fehlen. An diesem Abend ist die Band am Ende, Rio sagt dem Publikum mitten in Schritt Für Schritt Ins Paradies: „Wir können nicht mehr. Es tut uns wirklich leid, Leute, aber sorry“. Man beschließt die Auflösung.

Etwas Besseres als den Tod finden wir überall!

Die Band zerstreut sich in alle Winde und macht Urlaub, aber gegen Ende des Sommers trudeln nach und nach alle wieder am T-Ufer ein und bleiben dort wohnen, bis auf Kai Sichtermann, der für die kommenden zwei Jahre nicht zur Band gehört, aber immer in Kontakt mit ihr bleibt. Wieder ist es eine Theatermusik, die Ton Steine Scherben belebt. Für das Stück Herr Fressack Und Die Bremer Stadtmusikanten von Hoffmanns Comic Teater schreiben Rio und Lanrue die Songs, die dann direkt in der Wohnung mit allen, die dort gerade weilen, aufgenommen werden. Initiiert wird diese Aktion von Werner „Gino“ Götz, der dann bis zu Kais Rückkehr 1975 auch bei Ton Steine Scherben Bass spielt. Die LP erscheint zu Weihnachten 1973 und liegt seit 1999 auch als CD auf Möbius Rekords, dem Label von Rios Brüdern und Erben Gert und Peter Möbius vor.
Als sich Anfang 1974 herauskristallisiert, dass Ton Steine Scherben doch weitermachen wollen, stehen sie vor einem bekannten Problem: Sie brauchen einen neuen Schlagzeuger. In Klaus „Funky“ Götzner finden sie endlich eine Langzeitlösung, die bis zum Ende der Band Bestand haben wird. Außerdem ist Funky, der so genannt wird, weil er neben den Scherben gerne noch in einer Funkband gespielt hätte, der erste Musiker bei Ton Steine Scherben, der mit seinen bisherigen Engagements bei Embryo und Missus Beastley so etwas wie eine musikalische Vergangenheit vorzuweisen hat wenn auch keine, die den übrigen Bandkollegen großen Respekt abringt . Er zieht ebenso wie Gino ins T-Ufer ein, in dem mittlerweile eine weitere Etage vom Scherben-Kollektiv bewohnt wird. Ab Mai beginnen die Aufnahmen zum dritten Album Wenn Die Nacht Am Tiefsten, das abermals Doppel-LP-Format annehmen wird, ziehen sich jedoch bis zum April 1975 hin. Als das Album dann im September veröffentlicht wird hat die Band Berlin schon den Rücken gekehrt und lebt seit einem Vierteljahr im selbstgewählten Landexil bis auf Gino, der nicht mit umzieht.

Fresenhagen liegt fast an der dänischen Grenze und besteht nur aus einer Hand voll alter Bauernhöfe. Einen besonders baufälligen davon haben die Scherben mit Hilfe von Nikel Pallats Bausparvertrag erworben und sich damit ihr Refugium geschaffen, das sie vor dem ständigen Einvernommen-, Vor-diesen-oder-jenen-Karren-gespannt- und letztendlich Ausgenutzt-Werden in Berlin schützt. Die zunächst notdürftige Herrichtung des Gehöfts ist eine neue Komponente im Zusammenleben und arbeiten der „Stadtkinder“. Und auch die Besuche der Staatsmacht lassen schnell nach, zumal es mit der wohl sehr toleranten nordfriesischen Landbevölkerung keine Schwierigkeiten gibt, man sich bald sogar nachbarschaftlich hilft.

Ein weiterer Auslöser für die Landflucht ist wohl auch der so genannte „Glitzer-Gig“, der im April 74 die Konzertpause beendete. Wiederum im Audimax der TU findet der Auftritt statt und dieses Mal haben die Scherben den Saal geschmückt und passend zum aufkommenden Glamrock reichlich Glitzerkram verteilt. Sie haben die Nase voll vom linken Kleiderkodex, sie wollen revolutionär und attraktiv sein dürfen und werden von den linken Dogmatikern nicht verstanden. Die wittern mal wieder Verrat und die Band ist desillusioniert ob dieser konservativen Haltung der vermeintlich Revolutionären. TSS spielt im Mai und Juli 1974 noch einige wenige Konzerte, geht danach aber erst wieder Ende 1976 auf Tour. Dazwischen liegen lediglich ein „Begrüßungs-Auftritt im Trichter in Niebüll (der nächsten Disco bei Fresenhagen) im Dezember ’75, bei dem der in der Nähe von Kiel lebende Kai Sichtermann bereits wieder mit an Bord ist, und ein TV-Shooting auf Sylt im folgenden März.

Wenn Die Nacht Am Tiefsten... (1975)

Die Platte, die in dieser Zeit entsteht, ist also nicht nur im musikalischen Sinne eine Übergangsarbeit. Am exemplarischsten dafür ist der Song Ich Geh Weg, denn was hier auch textlich zum Ausdruck gebracht wird, liegt formal der ganzen Platte zugrunde: „Ich geh weg und such was neues / Ich geh weg und bin nicht traurig“. Einige der Stücke sind wiederum älter, wie der Titelsong, der auf einem Zitat von Ho Chi Minh beruht und ebenso wie Land In Sicht schon1971 entstanden war. Samstagnachmittag stammt gar noch aus dem Fundus der Roten Steine von 1970. Die anderen Stücke entstehen neu und die Band ist dabei, ihre musikalische Ausrichtung merklich zu erweitern.

Bis auf Wenn Die Nacht Am Tiefsten... gibt es keine kraftstrotzende Agitrock-Nummern mehr, auch wenn textlich Stücke wie Nimm Den Hammer oder Guten Morgen eindeutig an bisherige Arbeiter-Kampflieder anknüpfen. Halt Dich An Deiner Liebe Fest ist wie schon Komm Schlaf Bei Mir ein wunderbares Liebeslied, mit Sicherheit eines der besten der deutschen Rockgeschichte überhaupt. Gleich beim Opener Heute Nacht gibt es zum ersten Mal so etwas wie Groove bei den Scherben so zufällig hieß der neue Schlagzeuger also nicht Funky!

Wir Sind Im Licht ist offenkundig von den Theaterproduktionen inspiriert und mit Durch Die Wüste wird Karl May Tribut gezollt, auch wenn der Song inhaltlich nichts mit dem Roman zu tun hat. Ab sofort gibt es auf jeder Scherben Platte einen May-Titel. Am ungewöhnlichsten aber sind die beiden letzten Stücke des Doppelalbums: zunächst Komm An Bord, ebenfalls eine Art Mini-Rock-Oper und abschließend das zwanzigminütige Steig Ein, das die komplette vierte Plattenseite einnimmt. Der eigentliche Song besteht nur aus wenigen Zeilen, weite Strecken des Stückes sind die Untermalung zur Erzählung eines Traumes von Rio. Er beschreibt die Schönheit eines Planeten, von dem er erst am Schluss erkennt, dass es die Zukunft der Erde ist. Witzigerweise zitieren die Scherben sich selbst auf dieser LP mehrfach musikalisch. Wenn man genau hinhört, dann kann man beispielsweise in Samstagnachmittag kurz die Melodie von Macht kaputt... wieder finden (nach der Zeile „Ein Bullenauto fährt langsam vorbei / und wartet auf ’ne Schlägerei“).

Abstand gewinnen

Die erste Zeit in Fresenhagen ist außer vom Löcher im Dach stopfen und sich irgendwie einrichten vor allem von Theater- und Filmmusik-, sowie Hörspielproduktionen bestimmt. Dietmar Robergs Kinderhörspiel Teufel Hast du Wind macht 1976 den Beginn (CD auf Möbius Rekords 2001), es folgen diverse Projekte, die neben den LP-Verkäufen die Landkommune knapp über Wasser halten. Noch im selben Jahr erscheint Paranoia mit dem Kollektiv Rote Rübe, mit dem 1979 bei Liebe Tod Hysterie noch einmal kooperiert wird. Dazwischen liegen After Punk Show mit Transplantis (78) und zwei Scheiben mit dem schwulen Theaterensemble Brühwarm um den späteren Intendanten des Schmidt Theaters und FC St. Pauli-Präsidenten Corny Littmann. Auch auf deren beiden Alben Mannstoll (1977) und Entartet (79) stammt die komplette Musik von Rio und Lanrue, die sie zusammen mit ihren Bandkollegen im mittlerweile eingerichteten Studio in Fresenhagen aufgenommen haben. Text und Gesang werden allerdings von Brühwarm selbst beigesteuert und sind häufig eher derber gestrickt. Songtitel wie Immer Wieder Ficken sprechen eine deutliche Sprache. Allerdings sind mit dem wirklich grandiosen Shit Hit (eine Ode an verschiedenste Drogen) sowie den Stücken Raus, das
später Raus (Aus Dem Ghetto) heißt, und Kommen Sie schnell (Hallo Hallo), beziehungsweise Kommen Sie schnell (Irrenanstalt) auch drei Lieder dabei, die die Scherben in ihr Repertoire übernehmen und die auch auf ihren Live-Platten erscheinen. Gerade Raus (Aus Dem Ghetto) ist musikalisch ein fast klassischer Scherben-Song, nimmt inhaltlich aber insofern eine Sonderstellung ein, weil Rio Reiser an keiner anderen Stelle im Werk von TSS explizit für Schwulen-Rechte eintritt oder überhaupt Homosexualität thematisiert. Irrenanstalt erscheint (unter diesem, dritten Titel) außerdem noch einmal auf Rios fünfter Solo-Platte Über Alles 1993. Und noch ein weiterer spätere Rio-Titel wird für ein Sideprojekt erstveröffentlicht: Jetzt Schlägt’s Dreizehn von Durch die Wand wird 1981 für das Stück Märzstürme von HCT geschrieben und ist seit kurzem auch in einer TSS-Version auf Live III zu hören. Der Text stammt von Peter Möbius.

Neben dem Scherben-Studio haben sich auch die Frauen, die in Fresenhagen leben, zum Musizieren zusammen getan und einen Raum dafür hergerichtet. Neben Angie Olbrich am Bass sind dies Lanrues Schwester Elfie-Esther Steitz (die nach ihrer Heirat mit dem Spliff- und Lok Kreuzberg-Musiker Steitz-Praeker heißt) als Gitarristin und Schlagzeugerin Britta Neander, die auch bei den Scherben und später in Rio Reisers Band Percussions spielt. Danach wird sie Mitglied bei den Lassie Singers und gründet die Band Britta, der sie bis zu ihrem Tod 2004 in Folge einer Herzoperation angehört. Als Carambolage veröffentlicht die Band zwei Alben das unbetitelte Debüt-Album 1979 und Eilzustellung Express drei Jahre später, als zusätzlich Janett Lemmen (Bass, Saxophon) ein-gestiegen ist die ihnen als die erste deutsche Frauen-Punk-Band einige Anerkennung einbringen, auch von den durchaus neidisch irritierten Herren Mitbewohner!

Die haben sich erst mal wieder mit politischen Fragen rumzuärgern: Die SPD bietet 1976 eine nicht zu verachtende Summe dafür an, dass die Scherben für sie mit einem Musik-Theaterstück auf Wahlkampftour gehen. Die Band lehnt ab, schreibt aber sechs Songs für diese Unternehmung (für eine wesentlich kleinere Summe, versteht sich!). Eines dieser Stücke findet sich später doch bei TSS wieder: Ich will Ich Sein (auf In Berlin 1984 / Live I). Das zur selben Zeit geschriebene Mole Hill Rockers, das anfangs Arbeitslosen-Reggae heißt und für das letzte Studio-Album Scherben noch einmal neu eingespielt wird, gehört allerdings nicht zum „SPD-Repertoire“, auch wenn es blendend gepasst hätte. Für die SPD-Tour wird eine Band aus dem Umfeld zusammengestellt, die sich Captain Hammer nennt. Dabei sind Kai Sichtermann (der zu dieser Zeit noch nicht wieder bei den Scherben eingestiegen ist), die beiden T-Ufer- und Fresenhagen-Mitbewohner Uli Hammer und Jako Benz, sowie Wundersamerweise der Ur-Schlagzeuger Wolfgang Seidel, der außerdem 1980 beim Eröffnungskonzert für das Tempodrom in Berlin noch ein letztes Mal mit den Scherben auftritt allerdings als Vibraphonist. Im Jahr 2005 tritt er als Herausgeber des Buches „Scherben Musik, Politik Und Wirkung der Ton Steine Scherben“ noch einmal ins Rampenlicht und stellt sich merkwürdigerweise so dar, als sei er der einzig politisch standhafte gewesen...

Außerdem sorgt es für Furore als Ton Steine Scherben 1979 zusammen mit Corny Littmann und Ernst Meybeck (beide von Brühwarm) die Single Das Ist Unser Land / Kommen Sie Schnell herausbringen, deren A-Seite als Wahlkampfspot für die GAL, die Hamburger Grünen im Radio läuft. Littmann ist Spitzenkandidat, die Ergebnisse bei der Wahl 1980 sind allerdings eher bescheiden, aber zumindest wird verhindert, dass Franz Josef Strauß Kanzler wird.

In Fresenhagen hatte mittlerweile die große Landflucht eingesetzt: von den ursprünglich sechzehn Kommunarden sind nur noch Lanrue, Funky und Britta Neander übrig geblieben, selbst Rio hält sich zeitweise häufiger in seiner Berliner Zweitwohnung als in Schleswig-Holstein auf. Die Schulden sind brüderlich aufgeteilt worden und Rio und Lanrue übernehmen den Hof offiziell von Nikel Pallat, als auch dieser vor Bord geht. Kai Sichtermann wird zum Einzug überredet, so dass Fresenhagen zumindest wieder eine komplette Band beherbergt, zu der sich Hannes Eyber gesellt.

Der Texter, den Rio bei Theater-Arbeiten Anfang der 70er in Frankfurt kennen gelernt hat, wird für die Produktion der vierten Platte eine Art „Teilzeit-Scherbe“, tritt aber nur als Autor wesentlich in Erscheinung. Mit ihm zusammen verfasst Rio später seine Autobiographie König Von Deutschland. Jener titelstiftende Song existiert zu dieser Zeit übrigens schon seit fünf Jahren als Demo von Ton Steine Scherben (und wurde mindestens einmal auch live gespielt) wie einige Stücke mehr, die später auf Reisers Solo-Alben erscheinen.

Scherben IV Die Schwarze (1981)

Für die neue Platte, die dritte Doppel-LP in der Bandgeschichte, wird allerdings nicht auf liegen gebliebenes Material zurück-gegriffen, sondern ein völlig neuer Arbeitsansatz gewählt, der ein ebensolches Resultat bringt. Die Schwarze oder Scherben IV wie die eigentlich namenlose LP im uni-schwarzen Cover der Einfachheit halber genannt wird, ist das innovativste, musikalisch anspruchvollstes und abwechslungsreichste Alben der Scherben, dessen Größe unter der miserablen Klangqualität der ersten Pressungen leidet. Nachdem man Vinyl und Presswerk wechselt, bessert sich dies ein wenig, richtig genießen kann man die Platte aber eigentlich erst seit der CD-Neuauflage im Rahmen der Gesamtwerk-Box (und das schreibt ein überzeugter Vinyl-Fan!!!). Nicht nur wegen der düsteren Covergestaltung ist diese LP seit ihrem Erscheinen im März 1981 von einer eigenartigen, mystischen Ausstrahlung gekennzeichnet. Die ungewohnten Klangexperimente und vor allem die nicht minder versponnenen Texte entziehen sich eindeutigen Interpretationen. Die Band ist nicht nur vom agitatorischen Du zu einem lyrischeren Ich gekommen, sie hat sich völlig von Parolen oder konkreten Geschichten abgewendet. Manche Bilder lassen sich dechiffrieren, andere bleiben nebulös. Erst als Kai Sichtermann 2000 in seinem Buch Keine Macht Für Niemand das Geheimnis um die Entstehung des Songmaterials lüftet, erklären sich allmählich zumindest Teile dieser Platte. Musikalisch kommen ungewohnte Instrumente wie Mini Moog, Akkordeon, Hackbrett oder Banjo zum Einsatz und es sind wieder eine große Reihe Gäste aus dem Bandumfeld zu hören, selbst Wolfgang Seidel spielt nochmals bei drei Songs Vibraphon und an anderen Stellen Percussions.

Die Scherben sind zu der Einsicht gelangt, dass sie immer dann am besten seien, wenn sie unter Zeitdruck stehen. Also wird zu-nächst ein fester Zeitplan erstellt, der sich nach astrologischen Berechnungen, denen vor allem Rio, aber auch Kai großen Glauben schenken, richtet. Auch Lanrue, dem ausgesprochene Psi-Fähigkeiten nachgesagt werden, und Funky haben ein Faible für Übersinnliches. Also wird auf Rios Vorschlag hin verabredet, 22 Songs aufzunehmen und zwar je einen zu jeder Karte der Großen Arkanen. Das sind jene Karten in einem Tarotdeck, die jeweils einen grundlegenden Aspekt des menschlichen Daseins symbolisieren. Alle Karten werden in 22 Sitzung an verschieden Orten, die reihum ausgesucht werden, gezogen. Dann wird ausgelost, wer dazu den Text schreibt und wer die Musik komponiert. Alle Scherben inklusive Hannes Eyber, der als Nicht-Musiker aber nur textet, sind damit erstmalig ins Songwriting eingebunden. Allerdings wird von vornherein eine Gewichtung vorgenommen, so dass wieder die meisten Texte von Rio und die meisten Kompositionen von Lanrue (der wiederum nicht textet) stammen. Dennoch ist nie klar, wer mit wem zusammenarbeitet und in zwei Fällen ist Rio auch für Text und Musik gleichzeitig zuständig, nämlich bei S’is eben so (dessen eigenwillig gesetzter Apostroph ein weiteres Rätsel auf einer rätselhaften Platte ist) und Der Turm Stürzt Ein. Letzteres besticht durch seinen seltsamen Countryrock und merkwürdigen Endzeitbildern, die sich neben Bibel und Karl May auf unergründliche Inspirationsquellen stützen. Wer der „Pepsodent von Ju Es - Ah“ sein soll, lässt sich erahnen, aber ist das Motiv des Spiegels in Niemand Liebt Mich tatsächlich eine Kokain-Assoziation?
Die letzte Strophe von Kribbel Krabbel ist italienisch gesungen, aber was zum Teufel bedeuten die Sprachfetzen in Vorübergehend Geschlossen? Wie In Den Tagen Midians besteht nur aus zwei Bibelversen (Jesaja 9,4f.) und wird folgerichtig vom Kinderchor der Niebüller Kirchengemeinde mitgesungen. Die Zeile „Harikafulas lauern in Winnetous Garagen“ in Sumpf-Schlock scheint die Band im Studio zu meinen (die ersten Silben der Vornamen der Beteiligten aneinandergereiht ergibt „Harikafulas“ und „Winnetous Garage“ heißt die Scheune in Fresenhagen, in der sich das David Volksmund Studio befindet). Bei S.N.A.F.T. hat man einen Tippfehler im Wort „Sanft“ beibehalten. Der beeindruckendste Song aber ist direkt der Albumopener Jenseits Von Eden - nach Ansicht des Autoren zusammen mit Der Traum Ist Aus das beste, was die Scherben je aufgenommen haben! Dieses Stück erscheint 1982 zusammen mit Der Turm Stürzt Ein als Single auf dem alten Stones Label Decca, das jetzt zu Teldec gehört. Musikalisch ein hektisch peitschender Rocksong scheint der fast gehechelte Text die prophezeite Apokalypse mit der faschistischen Machtergreifung in Bezug zu setzen („Sechshundertsechsundsechzig / Schütze uns vor gestern / Eins Neun Dreiunddreißig“). Die düstere Bilderflut legt viele Assoziationen nahe, wirklich erklären kann man diesen Song aber genauso wenig wie Die Schwarze insgesamt. Diese Platte bleibt ein Mythos und es wird auch die letzte wirklich überzeugende Scherben Platte bleiben.

Verkalkuliert

Kurz nach der Schwarzen erscheint ebenfalls bei Teldec zunächst unter dem Titel Rock In Deutschland, Vol. 3 später als Auswahl I, eine Best-Of-LP, die neben der frühen Single-B-Seite Wir Streiken auch zwei alternative Studio-Aufnahmen von Meine Name Ist Mensch (Borsigwalde 1970) und Keine Macht Für Niemand (extra für diese Veröffentlichung in Fresenhagen 1981 neu eingespielt) bietet. Auf dem CD-Rerelease gibt es außerdem drei Bonus-Tracks: Seltsamerweise Rios erste Single von 1984 Dr. Sommer/B-Seite die beim selben Label erschienen war - und das ansonsten unveröffentlichte Auf Fremden Pfaden (noch ein K. May Titel). Dieses Stück hat Kai Sichtermann später für seine Nachtfalter-CD neu aufgenommen - vom Demo von 1982 bleib nur Rios Gesang und diese Version ist auch auf der Compilation-CD zu hören.

Zwischen Wenn Die Nacht Am Tiefsten... und IV liegen fünfeinhalb Jahre, in denen die Band nur sporadisch auftritt. Die einzige etwas ausführlichere Tour Ende 1976 ist wiederum von unnötigen, absurden linken Grabenkämpfen gekennzeichnet. Besonders das Konzert im Hamburger Audimax am 19.11.76 endet in einer 20-minütigen Diskussion darüber, warum die Scherben einen Frauenchor dabei haben und ob dies nicht sexistisch sei. Rio wird vorgeworfen, die befreundeten Musikerinnen (unter ihnen Britta Neander) „angemacht“ zu haben. Irgendwann hat er die Nase voll und singt: „Ich gestehe! Ich bin schwul! Ich bin krank, sagt die AA-Kommune! Wo sind die Gesunden? Auf die Bühne, los! Vorwärts!“ (Hentschel, S. 60) Solche zermürbenden Situationen, die zum Beispiel auch in anderer Weise auf der einzigen TSS-DVD Land In Sicht im Bonusmaterial verewigt sind, sind es, die die Band dazu bringen, lange Zeit kaum aufzutreten und es bei der anstehenden 82er Tour ganz anders anzugehen. Leider heißt „anders“ nicht immer auch gleich „besser“ und die Folge der Tour ist ein finanzielles Fiasko, dass die bisherigen Ausmaße des Schuldenbergs um ein Vielfaches erhöht.

Diese Tour geht als die „Elser Tour“ in die Analen ein, weil man ausgerechnet Elser Maxwell als Tourmanager engagiert hat. Der befreundete Kino-Besitzer aus Berlin sagt schon im Vorfeld, er könne mit Geld nicht umgehen, und hat dies ein-drucksvoll bewiesen, indem er die nicht geringen Einnahmen, die er damit verdiente, als erster die Rocky Horror Picture Show in einem deutschen Kino zu zeigen, binnen kürzester Zeit mit vielen Freunden und noch mehr Kokain verballerte. Einer seiner Filmvorführer im „Tali“ ist übrigens ein junger Mann, der sich Blixa Bargeld nennt und bei einer Band namens Einstürzende Neubauten seltsamste Klänge produziert aber das ist eine andere Geschichte...
Die Scherben Tour im Januar und Februar 1982 führt durch ca. 40 Städte und ist hervorragend besucht. Für diese Tour wird das Line-Up der Band grundlegend geändert: Rio tritt nur noch als Sänger und Frontmann mit ganz seltenen Ausflügen ans Klavier auf. Das macht zusätzlich den Einsatz eines zweiten Gitarristen (Marius del Mestre) und eines Keyboarders (Martin Paul) notwendig, die fortan fest zur Band gehören. Dummerweise ist aber so kalkuliert worden, dass selbst wenn jeder Gig ausverkauft gewesen wäre und viele sind es! immer noch ein Minus in der Kasse gewesen wäre! Die Band wollte endlich wie richtige Rockstars unterwegs sein, mit schicken Hotels, feinen Getränken und allem Luxus, den man sich auf einer solchen Ochsentour ruhigen Gewissens gönnen können sollte. Das Problem ist, dass die Scherben eingedenk ihrer früheren „Solidaritätspreise“ nicht zu sehr an der Eintrittspreis-Schraube drehen wohl auch, weil viele örtliche Veranstalter Bedenken gehabt hätten. So gibt es also eine normal teure Produktion zum Eintritts-Dumpingpreis vom meist unter 12,- DM. Das Ende vom Lied sind wohl um die 200.000 DM Schulden mehr für die eh schon gebeutelte Scherben-Kommune. Ironie am Rande: bei insgesamt rund 70.000 Besuchern hätte mit nur 3,- DM höheren Eintritt und 15,- DM wären anno 82 nicht überteuert gewesen! zumindest ein +/- 0 am Ende der Tour gestanden. So ist die Desillusion doppelt tief: Nicht nur der Versuch, die schleppenden Einnahmen durch unerwartet schwache LP-Verkäufe auf Trab zu bringen, ist grandios gescheitert, die Schatten der Vergangenheit, von denen man sich musikalisch auf IV befreit zu haben schien, fordern ihren Tribut mit aller Härte. Zumindest aber haben sich die Scherben erfolgreich zurück in die Öffentlichkeit gebracht, denn künstlerisch war die Tour überzeugend und es gibt so zumindest eine Perspektive, weiter zu machen, um dann doch noch vielleicht nicht unbedingt reich zu werden, aber zumindest die Geldsorgen loszuwerden. Aber leider sollte es wieder anders kommen...

Der erste Schritt der Konsolidierung nach Elsers Rauswurf aus Fresenhagen ist, Martin Pauls Freundin Claudia Roth als neue Managerin zu engagieren. Die heutige Grünen-Chefin verfügte auch schon 1982 über Organisationstalent und Durchsetzungsvermögen, so dass sich die Schwäbin alsbald im Nordfriesischen wieder findet. Schon im Mai gehen die Scherben wieder auf Tour, diese Mal auch finanziell erfolgreich. Und auch an neuem Material wird zu diesem Zeitpunkt schon gearbeitet, Gitarrist Marius del Mestre tut sich als Songwriter besonders hervor, scheint dabei aber die natürlich bestehende Hierarchie der ehemaligen Anarchoband nicht ganz richtig einzuschätzen: Obwohl seine Songs nicht schlecht sind, geht er allen anderen so lange damit auf die Nerven, bis er „ehrenvoll aus der Truppe entlassen wird“.

Bis Ende des Jahres hat die Band 22 Demos aufgenommen, die per Abstimmung auf 14 reduziert werden müssen. Sechs der Songs, die diesem Votum zum Opfer fallen, erscheinen später auf der Raritäten-CD Was Bleibt, der siebte, Sei Mein Freund, auf der Compilation 18 Songs aus 15 Jahren 2005. Das letzte Demo Auf fremden Pfaden bleibt unveröffentlicht, erscheint aber als Neubearbeitung (mit Rios Original-Gesang) auf den CDs Nachtfalter von Kai Sichtermann und Auswahl I. Die „Gewinner-Titel“ werden zwischen Januar und März 1983 in Fresenhagen aufgenommen, allerdings nicht im eigenen Studio, sondern mit Conny Planks mobilen Studio und dem ehemaligen Sex Pistols- und Toten Hosen-Tontechniker Jon Caffery an den Reglern. Unter dem schlichten Titel Scherben erscheint die fünfte - und letzte Ton Steine Scherben LP im März 1983. Nach drei Doppel-LPs schließt sich quasi ein Kreis: Wie das Debüt hat auch der Schwanengesang der Scherben wiederum nur zwei Seiten.

Die Platte ist insgesamt die uneinheitlichste im gesamten Scherben-Werk. Von den mystischen Experimenten des Vorgängers ist wenig übrig geblieben. Gleich das erste Stück Wo Sind Wir Jetzt ist durchaus programmatisch: „Ich hör’ große Worte / Aber ich weiß, da is’ ’ne Bombe in der Torte“. Aber genau wie Hau Ab, Verboten oder La Reponse überzeugt das Stück durch gradlinigen Scherben-Rock. Überhaupt muss man sich hüten, diese Platte immer an der natürlich sehr eingängigen Single Auskopplung Lass Uns’n Wunder Sein zu messen und sie als Anbiederung an den Pop abzuurteilen. Neben den veritablen Rockern gibt es auch hier musikalisches Neuland wie das merkwürdig entrückte Ardistan (der Karl May Titel dieser LP), das alptraumhaften Fieber (wieder ein Koks-Song?) und den Groove von Mole Hill Rockers, dem alten Arbeitslosen-Reggae.

Das Songwriting liegt wieder fast ausschließlich in den Händen des erprobten Gespanns Möbius/Seitz (die Analogie zu Jagger /Richards ist wohl nahe liegender als zu Lennon/McCartney). Hier und da ist Rio auch an der Komposition beteiligt. Kai Sichtermann schreibt die Musik zu Regentag, der Text von Rio bezieht Kais und Angie Olbrichs gerade geborene Tochter Lisa mit ein. Rios Partner Misha Schöneberg, der zuerst als Organisator, dann als Lichtdesigner zur Livecrew gehört, textet Sternschnuppen und Hannes Eyber Traum ohne Stern.

Das Licht ist aus, der Traum auch

Ab April geht die Band wieder ausgiebig auf Tournee, diese Mal teilweise durch Fritz Rau organisiert und so finanziell abgesichert. Der Impressario zahlt zwar drauf, die Scherben werden immer noch nicht reich, aber es bleibt zumindest etwas Geld übrig. Dafür gibt es massive technische Probleme und auch zwischen Band und Konzertveranstalter läuft es nicht reibungslos, so dass abermals hauptsächlich Frust zurückbleibt, auch wenn es musikalisch wenig auszusetzen gibt.

Für del Mestre steigt Dirk Schlömer als zweiter Gitarrist ein und Britta Neander ist als Percussionistin auch wieder dabei.

Immer noch spielen TSS hier und da auf Solidaritätsveranstaltungen und gehen auch für die Grünen auf Wahlkampftour, der Großteil der Gigs findet aber im „normalen“ Konzertbetrieb statt und wird auch nicht mehr laufend durch mehr oder minder qualifizierte Redebeiträge missionarischer Konzertbesucher unterbrochen. (Ausnahmen bestätigen die Regel, wie die beiden Stücke vom Konzert im Hamburger Stadtpark am 4.6.83 auf der DVD Land In Sicht beweisen...) Im Januar und Februar 1984 spielen Ton Steine Scherben ohne Britta Neander, aber sonst unverändert erneut eine Wahlkampftour, die Grüne Raupe durch Baden Württemberg. Diese Nähe zu den Grünen, die auf Claudia Roth zurückgeht, führt zu Spannungen in der Band. Die Managerin re-politisiert die Scherben im grünen Spektrum, die Band selbst sieht sich aber anders.

Zwischen Mai und Juni folgt unter dem Titel Schritt Für Schritt Ins Paradies die letzte Tour von Ton Steine Scherben, die sie auch für einen Gig mit Paco De Lucia nach Wrolaw bei Breslau in Polen führt. Die Tournee endet mit fünf Konzerten in der Berliner UFA-Fabrik Mitte Juni, von denen zwei (am 15. und 16.6.) für die späteren Live-Alben mitgeschnitten werden. Bei dieser Tour, wie auch dem allerletzten Auftritt der Band am 6. März 1985 in Saarbrücken (ebenfalls ein Konzert für die Grünen zusammen mit den Schmetterlingen) spielt Richard Herten Percussions. Der vorherige Schlagzeuger von Schröder Roadshow, mit denen die Scherben die Rau-Tour zusammen bestritten hatten, war allerdings noch nicht 1983, wie in den Credits zur Live III-CD fälschlicherweise vermerkt, dabei. Passenderweise wird bei diesem letzten Gig ausgerechnet bei Keine Macht Für Niemand der Strom abgestellt. Diese Symbolik verdanken wir einem Hausmeister, der Feierabend haben will und nicht einsieht, Überstunden zu schieben, weil sich durch endlose Reden mal wieder! - der Konzertbeginn verschoben hatte. Er wird überzeugt, das Konzert zu Ende gebracht und bald darauf auch die Band!

Die unwiderrufliche Auflösung beschließen die Scherben nachdem sie auch mit ihrer fünften LP keine nennenswerte Verbesserung ihrer Einnahmen verbuchen können. Die neu hinzugezogene Vertriebsfirma Lewald&Motl hat „unsauber“ abgerechnet, was wiederum einen sechsstelligen Schaden verursacht. Vor Gericht bekommen die Scherben gerade mal 20.000 DM zurück, so dass die erdrückende Schuldenlast bleibt. Die Band wäre zum ersten Mal bereit, einen Deal mit der Plattenindustrie einzugehen, aber es gibt kein Angebot, dass ihren Erwartungen und Ansprüche auch nur annähernd erfüllen würde. Von den Songs, mit deren Demos sie sich auf Labelsuche begeben, erscheinen übrigens drei (Alles Lüge, Junimond und Lass Mich Los) auf Rios erster Solo-LP, das vierte (Runter Zum Hafen) auf der zweiten. Abgesehen davon fühlt insbesondere Rio sich unter der Führung von Claudia Roth nicht mehr wohl. Die spätere Spitzenpolitikerin ist vielleicht die erste, die die Scherben professionell managt, aber sie übt dabei Macht und Dominanz aus, der man sich nicht länger unterordnen will. Irgendwann Ende Mai 1985 treffen sich Rio, Lanrue, Kai und Funky in der Berliner Villa von Manne Praeker und beschließen bei einem Glas Sekt die Auflösung der Band ganz leise, einverneh
lich und endgültig. Die anderen Beteiligten werden nicht gefragt...


„Rio ging zur Sony, ich ging zum Sozi“ (Funky Götzner)

Rio Reiser Solo Aktivitäten begannen bereits 1983 als er erstmalig bei zwei Auftritten ganz allein mit einem Klavier auf der Bühne ist. (Teile dieser Shows, die eindrucksvolle Versionen von Scherben-Songs enthalten, sind auf den beiden posthum veröffentlichten CDs Am Piano zu hören). Im folgenden Jahr erscheint als eine erste Single Dr. Sommer, dessen B-Seite passenderweise B-Seite heißt, und die editorisch eher unpassend auf der CD-Neuauflage der Scherben-Kompilation Auswahl I mit enthalten ist.

Der weitere Werdegang von Rio Reiser ist bereits in der German Rock News Ausgabe 07 von 1999 ausgiebig beschrieben worden. RPS Lanrue, Misha Schöneberg und Hannes Eyber begleiten den kommenden König von Deutschland noch viele Jahre. Lanrue und Rio werden zusammen die Eigentümer von Fresenhagen, wo sie bis zu Rios Tod am 20.August 1996 zusammen leben. Nachdem Rio Reiser - dank einer Sondergenehmigung der schleswig-holsteinischen Ministerpräsidentin Heide Simonis auf dem Hof bestattet wird - wird dieser zu Pilgerstätte, Museum und Veranstaltungsort. Lanrue wandert daraufhin nach Portugal aus und züchtet Zitronen, bis 2004 ein Waldbrand seinen Hof in Schutt und Asche legt. Glücklicherweise werden die größten Teile des Ton Steine Scherben-Tonbandarchivs kurz zuvor zurück nach Berlin gebracht und so gerettet. Im folgenden Jahr söhnt sich Lanrue mit den Möbius Brüdern die per Gesetz zu Rios Erben wurden, nach jahrelangem Rechtsstreit aus.

Die Schulden der Scherben werden nicht nur durch Rios anfängliche Solo-Erfolge getilgt, sondern auch dadurch, dass alle Musiker über Jahre auf ihre Lizenzauszahlungen verzichteten. Ausgerechnet Marius Del Mestre, den Rio seinerzeit mit seinem eigenen Lieblingssatz „Das ist Rock’n’Roll“ aus der Band gekickt hatte, leitete das Rio Reiser Haus in Fresenhagen bis Juni 2006 und begleitet danach Hollow Skai, dem Autoren der umstrittenen Rio-Biographie Das Alles Und Noch Viel Mehr, bei Lesungen musikalisch. Die Möbius-Brüder haben das Rio Reiser Archiv in Berlin aufgebaut und betreiben die David Volksmund Produktion weiter. Es gibt mit der Scherben Family eine Nachfolgeband, die aus Kai Sichtermann, Marius Del Mestre, Schlotterer, Martin Paul, Nikel Pallat, Angie Olbrich und Funky Götzner besteht und gelegentlich Konzerte gibt. Auch die Formation Neues Glas Aus Alten Scherben von Schlömer und zeitweise Funky tritt nach wie vor mit Scherben-Songs auf. Außerdem legt Dirk Schlömer mit der CD Zeitreiser : Ardistan ein Remix-Album vor, das zehn verschiedene Versionen von Ardistan enthält (basierend auf der Version von Live III). Kai Sichtermann bringt als Die Nachtfalter Träume Tod Erinnerung eine Art Tribute-Projekt heraus und es erscheinen Coverversionen von Rio- und Scherben-Songs auf diversen Tributealben wie Familienalbum, Das Konzert Der Freunde - Abschied Von Rio, Die Erben Der Scherben, Der Traum Ist Aus/Soundtrack, Viva L’Anarchia und andere. Es gibt diverse Theater- und Filmprojekte zum Leben und Werk von Rio Reiser und Ton Steine Scherben, von denen unbedingt die Inszenierung Rio Reiser Der Kampf Ums Paradies der Bremer Shakespeare Company zusammen mit dem Theater Strahl hervorzuheben ist. Umstritten ist hingegen die Adaption des ehemaligen Selig-Sängers Jan Plewka, der relativ fei mit dem Werk umgeht. Manchmal vielleicht etwas zu frei, denn den Text von Keine Macht Für Niemand sollte man schon beherrschen, zu mal wenn man das Stück auf DVD (Jan Plewka Singt Rio Reiser) veröffentlicht.
Live I ...II ...III / Land In Sicht (1985 - 2006)

Zum Zeitpunkt der Trennung Anfang 1985 erscheint das erste von bislang drei Live-Alben zunächst unter dem Titel In Berlin 1984, bei der Wiederveröffentlichung im Rahmen des Gesamtwerks heißt es der Einfachheit halber Live I. Live II kommt mehr als elf Jahre später im Juli 1996 heraus einen Monat vor Rios Tod. Beide Alben sind ausschließlich am 15. und 16.06.84 in der UFA-Fabrik Berlin aufgenommen, enthalten neben Scherben-Klassikern aus allen Phasen der Karriere aber auch einige Songs aus Nebenprojekten, die den Weg ins Live-Repertoire der Band geschafft haben. Auf Live I sind das der Shit-Hit und Raus (Aus Dem Ghetto) vom zweiten Brühwarm-Album und Ich Will Ich Sein aus dem unglücklichen SPD-Wahlkampf-Projekt von 1976; auf Live II mit Irrenanstalt ein Song von der ersten Brühwarm LP Mannstoll.
Erst auf Live III von 2006 gibt es zumindest einige Songs von Konzerten aus den Jahren 1982 und 83 und mit Jetzt Schlägt’s Dreizehn ebenfalls ein Stück, das die Scherben nie auf einen ihrer Studioalben veröffentlichten (Rio aber 1991 auf Durch Die Wand).
Die interessantesten Bearbeitungen sind die von Der Traum Ist Aus (Live II), mit denen die Scherben in den letzten Jahren meist ihre Konzerte eröffneten. Nach einem Streicher-Satz als Intro (von Martin Paul komponiert) rockt dieser Song zunächst recht ungewohnt, mit mehrmaligen Hören aber sehr überzeugend. Zum Rerelease wird beiden Alben auch neue Cover spendiert, die sie in eine Reihe mit Live III stellt.

Auf dieser Scheibe sind zum ersten Male auch Aufnahmen von 1982 und 83 zu hören, ältere Livemitschnitte bleiben mit Ausnahme der vier Songs auf der Debüt-Platte unveröffentlicht. Dafür gibt Rio den Rauch-Haus-Song solo am Klavier, wie übrigens auch auf der Live-DVD Land In Sicht, die 2002 erscheint. Sie enthält das komplette Konzert in Offenbach vom 30. Mai 1983, das außer dem Fehlen von Jenseits Von Eden keine Wünsche offen lässt. Neben den 24 Songs des Abends gibt es drei weitere Stücke aus anderen Konzerten des selben Jahres (Wo Sind Wir Jetzt ebenfalls als Rio-solo-am-Piano-Version und zwei Stücke aus dem Hamburger Stadtpark, die von endlosen Diskussionen mit dem Publikum gekennzeichnet sind), außerdem rund eine halbe Stunde Interview mit Rio und ein paar nützliche Infos.
Gesamtwerk (2006)

Die CD Live III erscheint zeitgleich mit der CD-Box Gesamtwerk, die als die ultimative Edition des TSS-Werkes angesehen werden muss. Die 13 CDs der Box beinhalten alle Original Studioalben, die drei Live-Platten, eine Doppel-CD mit Neuabmischungen von Songs der letzen beiden Studioalben und die CD Was bleibt Singles Demos Raritäten. Letztere ist das eindeutig spannendste Teil dieser mit ca. 90,- Euro recht günstigen Box. Neben den schon ausführlich erwähnten Songs der ersten drei Singles von 1970 72 enthält sie neun unveröffentlichte Demos. Die ersten sechs davon entstanden 1982 für das letzte Studioalben, fielen aber bei der endgültigen Abstimmung durch. Die weiteren Demos sind alternative Versionen von den Songs Warum Geht Es Mir So Dreckig (70), Sklavenhändler (70), Komm Schlaf Bei Mir (72) und Kribbel Krabbel als Instrumental von ca. 1980. Allerdings weiß man von den Bonussongs auf den beiden Compilations Auswahl I und 18 Songs Aus 15 Jahren (2005 auf David Volksmund erschienen), dass die Bezeichnung Gesamtwerk nicht wirklich zutreffend ist. Wie viel auch immer mit Lanrues Haus in Portugal verbrannt ist, es gibt diverse weitere unveröffentlichte Songs der Scherben. Nicht wenige Fans würden einiges dafür geben, die im Anhang von Kai Sichtermanns Buch aufgeführten TSS-Versionen von König Von Deutschland, Bei Nacht, Alles Lüge, Dr. Sommer und andere unveröffentlichte Aufnahmen zu hören.

Dennoch ist diese Box so etwas wie die ultimative Edition des Scherben Katalogs. Alle Alben wurden von Udo Arndt, mit dem Rio intensiv in seiner Solo-Zeit zusammengearbeitet hatte, remastert. Trotz diverser Vertriebswechsel (April, Schneeball, EFA, Indigo, Buschfunk) waren die Scherben CDs und auch die LPs! zwar jederzeit verfügbar, die Überspielungen ließen aber klanglich immer sehr zu Wünschen übrig. Außerdem sind jetzt die Digipak-Cover relativ nah an den Original-LP-Artworks und zu jeder CD gibt es ein beiliegendes Mini-Poster, auf dessen Rückseite die Songtexte abgedruckt sind. Die Live-Scheiben enthalten einen dreiteiligen Starschnitt, den man so nicht unbedingt braucht, dafür sind der mitgelieferte Songindex und das Konzertverzeichnis nicht nur bei der Recherche zu diesem Artikel äußerst hilfreich.

Abgerundet wird die Box durch ein dickes, gebundenes Booklet mit ausführlichen Linernotes von Lanrue. Die Songs von Was Bleibt werden von Kai Sichtermann und Funky Götzner einzeln vorgestellt. Hinzukommen ein Vorwort von Lutz Kerschowski, in dem er beschreibt, wie die Box entstanden ist, und vielen seltene Fotos, die uns freundlicherweise von David Volksmund auch zur Bebilderung dieses Artikels (!) zur Verfügung gestellt wurden.

Auf der Doppel-CD Neu Gemischt gibt es schließlich insgesamt 22 Songs von IV und Scherben, die Arndt komplett neu abgemischt hat. Leider war es nicht mehr möglich, die kompletten Alben in dieser Form zu bearbeiten, weil Teile der Masterbänder tatsächlich verbrannt sind. Andererseits: wenn man die Remaster-Versionen der Alben hat, muss man diese Neuabmischungen nicht unbedingt auch noch haben. Ein nettes Schmankerl sind sie allemal, mehr aber auch nicht. Das bemerkenswerteste an dieser Box ist aber die Mitarbeit Lanrues - nach dem Konzert der Scherben Family anlässlich seines 50. Geburtstags im Januar 2005 ein weiteres Zeichen der Aussöhnung. Anfang 2007 zieht Lanrue wieder nach Fresenhagen, um dort an seinem ersten Solo-Album zu arbeiten.

Scherben Literatur

Im Trennungsjahr 1985 erscheint das Songbuch Ton Steine Scherben, Geschichten, Noten, Texte Und Fotos Aus 15 Jahren, herausgegeben von Dirk Nishen. Neben den Noten und Songtexten enthält das Buch Beiträge von Rio, Lanrue, Kai Sichtermann, Funky und anderen.

Als absolut verlässlich und spannend hat sich das Buch Keine Macht Für Niemand - Die Geschichte Der Ton Steine Scherben, das Kai Sichtermann zusammen mit Jens Johler und Christian Stahl geschrieben hat, erwiesen. Die Bandgeschichte wird chronologisch erzählt und auch immer wieder in den jeweiligen politischen Kontext der Zeit gestellt. Sichtermann gelingt der Spagat zwischen dem Erzählen von subjektiv Erlebtem und dem Bericht der objektiven Fakten hervorragend, in dem er eine außenstehende Erzählperspektive wählt, die immer wieder von Zitaten der Beteiligten ergänzt wird.

Zwischen den Kapiteln gibt es Interviews mit den Scherben-Musikern und anderen Beteiligten wie Claudia Roth, Elser Maxwell, Gert Möbius. Auch das Datenmaterial im Anhang, das teilweise für die Gesamtwerk-Box übernommen wurde, ist vorbildlich. Dieses Buch ist das unverzichtbare Standardwerk zur Band.
Rio Reiser hat 1994 seine Autobiographie König Von Deutschland (zusammen mit Hannes Eyber) veröffentlicht, die aufgrund ihres lakonischen, manchmal fast stichwortartigen Stils absolut lesenswert ist. Rio schreibt in einem unorthodoxen Tempo, das wohl seinem Leben angemessen war. Genauso rasant wie dieses Buch erzählt ist, hört es auch auf.

Die Scherben ziehen aus Berlin weg und Schluss! Fresenhagen, die Solokarriere? Fehlanzeige! Alles das findet i
diesem Buch leider nicht statt, dafür beschreibt Reiser seine Kindheit und Jugend, die ersten Begegnungen mit Lanrue, die Theaterarbeit mit seinen Brüdern und auch sein Liebesleben ausführlich. Bis zum ersten Konzert mit den Scherben vergehen rund 200 Seiten, 100 Seiten weiter ist das Buch leider schon zu Ende.

Die Lücken, die es hinterlässt, hat Hollow Skai in seiner 2006 erschienen Biographie Das Alles Und Noch Viel Mehr versucht zu füllen. Allerdings gibt es um sein Werk erhebliche Differenzen mit Rios Brüdern, die für Außenstehende schwer nachvollziehbar sind. Skai hat die menschlichen Schwächen der Person Rio Reiser, wie sie ihm berichtet wurden, nicht verschwiegen, andererseits wird ihm vorgeworfen, sich mit engen Freunden und Verwandten kaum oder gar nicht unterhalten zu haben. Insbesondere die Darstellung der letzten Lebensmonate Rios ist umstritten. Dennoch ist sein Werk ist alles andere als der Versuch, den „König Von Deutschland“ vom Sockel zu stoßen. Im Gegenteil, Skai versucht, selbst in den schwächeren Platten der Solo-Zeit noch das Kunstvolle zu sehen. Außerdem hält er sich sehr eng an Reisers Autobiographie, aus der er ausführlich zitiert so eng, dass er sogar Schreibfehler („Atomheart Mother“ statt Atom Heart Mother) übernommen hat! Diese Biographie ist das einzige umfassende Werk über das komplette Leben des Ralph Möbius und als solches auch zu empfehlen.

Etwas kritischer verhält es sich mit der Textsammlung „Scherben Musik, Politik Und Wirkung Der Ton Steine Scherben“, die Wolfgang Seidel herausgegeben hat. Der Schlagzeuger, der nur rund ein Jahr Mitglied der Band war und später als gelegentlicher Gast wiederkehrte, versucht vor allem die politische Einordnung des Schaffens. In seinen beiden längeren eigenen Beiträgen gibt es durchaus eine ganze Reihe interessanter Details, die anderswo noch nicht berichtet wurden, aber in seinen Bewertungen spielt sich der Musiker oft wie ein Gralshüter der linken Grundgesinnung auf und kritisiert lehrmeisterhaft, was seiner Meinung nach (politische) Fehler gewesen seien.

Oft verwischt die Perspektive, wenn Seidel, der beispielsweise nie in Fresenhagen gewohnt hat, so zu tun scheint, als ob er aus der Position eines Insiders berichtet. Dennoch hat auch dieses Buch, neben vielen Schwächen, seine interessanten Seiten. Es ist aber tatsächlich eher als Ergänzung zu den zuvor genannten Werken zu sehen.
Und das Ende vom Lied?

Will man heute zu einer realistischen Einschätzung der Bedeutung von Ton Steine Scherben kommen, gehören solche Aspekte natürlich zwangsläufig dazu. Es gibt keine zweite deutsche Band, die so tief und direkt mit dem politischen Kontext ihres Wirkens verbunden ist. Die Scherben haben Fehler gemacht, aber wie Seidel richtig feststellt, hatten sie niemand, von dem sie hätten lernen können. Claudia Roth meint, der größte Fehler sei die Auflösung gewesen es war ja auch nicht ihre Idee.

Aber könnte man sich Ton Steine Scherben im Jahre 2007 noch vorstellen und wenn ja, wie und wo? Aber auch wenn nicht - die Berechtigung ihrer Songs und die Richtigkeit ihrer Kritik und Visionen gehen weit darüber hinaus, nur im Zeitbezug gesehen werden zu dürfen. Ein Song wie Der Traum Ist Aus beinhaltet auch jetzt noch eine Utopie, die nichts von ihrer Schönheit verloren hat. Dass immer weniger Menschen daran glauben oder darum kämpfen wollen ist kein Beweis dafür, dass an der Idee etwas falsch wäre. Zu Zeiten von Mensch Meier haben Fahrpreiserhöhungen beinahe für Revolten gesorgt heute regt sich kein Fünkchen Widerstand, wenn via „Teuro“ oder Mehrwertsteuererhöhung der Bevölkerung immer weniger Geld bleibt. Wir sind mehr denn je Jenseits Von Eden und dieser unübertreffliche Song bleibt ebenso von dauerhaftem Bestand wie das Gesamtwerk einer Band, die ihre Hoffnung und Überzeugung zu keiner noch so schweren Zeit aufgegeben hat. Und „Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten.“

Bedanken für die Zusammenarbeit möchte ich mich bei Kai Sichtermann (stellvertretend für die ganze Band – Thank You For The Music!), Nikel Pallat, den ich leider immer nur auf Beerdigungen treffe, Gert Möbius & Rainer Börner (Rio Reiser Haus Fresenhagen / Rio Reiser Archiv / David Volksmund Produktion), für Anregungen, Bilder und Steinschleuder, Ute Bierwisch (Heyne), der profunden Scherben-Kennerin Regina Sommerfeld für die Durchsicht des Manuskripts, dem “Großen Vorsitzenden” Kurt Mitzkatis für seinen unermüdlichen Einsatz und unzählige konstruktive Gespräche und natürlich bei meinen Liebsten Heike, Luca, Kaya und Lizzy – jetzt habe ich wieder mehr Zeit für euch!

Lars Fischer

Quellen:

Kai Sichtermann mit Jens Johler und Christian Stahl: „Keine Macht Für Niemand - Die Geschichte Der Ton Steine Scherben“, Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag, Berlin 2000

Rio Reiser mit Hannes Eyber: „König Von Deutschland“ Kiepenheuer & Witsch, Köln 1994

Hollow Skai: „Das Alles Und Noch Viel Mehr Die Inoffizielle Biographie Des Königs Von Deutschland“ Wilhelm Heyne Verlag, München 2006

Wolfgang Seidel: „Scherben Musik, Politik Und Wirkung Der Ton Steine Scherben“ Ventil Verlag, Mainz 2005

Ton Steine Scherben: „Das Gesamtwerk“ - CD Booklet, David Volksmund Produktion, Berlin 2006

Wolfram Hanke: „Anarchie Und Alltag“ in Rolling Stone 01/2005 S. 32 37

Joachim Hentschel: „Spur Der Steine“ in Rolling Stone 03/2005 S. 51 66

Ton Steine Scherben: „Guten Morgen“ - Eigenverlag, Berlin 1972 zum kostenlosen Download auf www.riolyrics.de, wo es auch ein hervorragendes, unglaublich umfangreiches Pressearchiv zu den Scherben und Rio gibt.

Außerdem hilfreich: die offizielle Website www.tonsteinescherben.de
Und natürlich : http://www.germanrock.de/t/ton_steine_scherben/index.htm

Discografie
LPs

1971: Warum Geht Es Mir So Dreckig? (DVP 008)
1972: Keine Macht Für Niemand (DoLP, DVP 007)
1975: Wenn Die Nacht Am Tiefsten... (DoLP, DVP 002)
1981: IV (Die Schwarze) (DoLP, DVP 001)
1981: Rock In Deutschland, Vol. 3 später als Auswahl I - 1970 bis 1981 wiederveröffentlicht, Sampler enthält zwei Songs in exklusiven Versionen. (Teldec)
1983: Scherben (DVP 999)
1985: In Berlin 1984 (Live I) (15. + 16. Juni 1984 in der UFA-Fabrik) (DVP 013)
1996: Live II (15. + 16. Juni 1984 in der UFA-Fabrik) (DVP)

Singles

1970: Macht Kaputt, Was Euch Kaputt Macht / Wir Streiken (Label: Ton Steine Scherben)
1971: Allein Machen Sie Dich Ein / Frauen Gemeinsam Sind Stark (A-Seite als ”TSS & Jugendzentrum Berlin”, B-Seite als ”TSS & Frauenbefreiungsfront”, Flexi-Folien-Single, Siegfried Volkskrieg Produktion)
1972: Mensch Meier / Nulltarif (Flexi-Folien-Single, Schwarzfahrerproduktion)
1980: Das Is Unser Land / Kommen Sie Schnell (als ”Corny, Ernst & Scherben”, DVP/GAL)
1981: Jenseits Von Eden / Der Turm Stürzt Ein (DVP/Decca/Teldec 6.13.128)
1981: Maxi Jenseits Von Eden (Remix) / Morgenlicht (Remix) (DVP/Decca/Teldec)
1983: Lass Uns Ein Wunder Sein / Hau Ab (DVP/Teldec)
1983: Maxi Lass Uns ’n Wunder Sein (Radio Edit) / Hau Ab (Remix) / Bist Du’s (extra lang) (DVP/Teldec)

CDs

(Von allen CDs bis Live II existieren frühere Versionen, die aber nicht remastert und somit klanglich nicht den Standard der Wiederveröffentlichungen von 2006 halten können. Die remasterten CDs sind alle in Papphüllen erschienen, die früheren nicht!)

1971/2006: Warum Geht Es Mir So Dreckig? (DVP)
1972/2006: Keine Macht Für Niemand (DVP)
1975/2006: Wenn Die Nacht Am Tiefsten... (DoCD, DVP)
1981/2006: IV (Die Schwarze) (DoCD, DVP)
1983/2006: Scherben (DVP)
1985/2006: In Berlin 1984 (Live I) (15. + 16. Juni 1984 in der UFA-Fabrik) (DVP)
1996/2006: Live II (15. + 16. Juni 1984 in der UFA-Fabrik) (DVP)
2001: Auswahl I - Klassiker & Raritäten jetzt als ”Rio Reiser & TSS”, wie LP, aber digital überarbeitet und mit drei Bonustracks: Rios Dr. Sommer Solo-Single und ein exklusiver Song. (eastwest)
2004: 18 Songs Aus 15 Jahren (Sampler mit einem unveröffentlichten Song, DVP)
2006: Live III (1982, Hamburg, 1983/84 Berlin) (DVP)
2006: Gesamtwerk (DVP) - Box mit 13 CDs. Enthält alle fünf Original- und die drei Live-CDs.
Alle CDs remastert. in Pappschubern, den Original-LP-Cover nachempfunden. Live I & II mit neuem Cover. Diese CDs sind alle auch separat erhältlich (s.o.)
Exklusiv nur in der Box: Die CD Was bleibt - Singles, Demos, Raritäten & die DoCD IV Die Schwarze & Scherben - Neu Gemischt mit völlig neu abgemischten Songs aus den letzten beiden Studio-Alben, sowie ein 72-seitiges gebundenes Booklet,

Theatermusik & Hörspiele

(Berücksichtigt sind nur Arbeiten, von denen separate Tonträgern mit TSS als Interpreten vorliegen. Es gibt darüber hinaus diverse weitere Nebenprojekte, die von Rio solo, Rio & Lanrue oder auch TSS stammen - u.a. auch Musik für Filme und TV -, die auf regulären Alben zu finden sind oder aber nie auf Tonträger veröffentlicht wurden.)

1973/1999: Herr Fresssack Und Die Bremer Stadtmusikanten (Hörspiel für Kinder) - als ”Hoffmanns Comic-Teater & TSS” (LP Rotbuch-Verlag, als CD auf Möbius Rekords/Buschfunk wiederveröffentlicht)
1976/2001: Teufel Hast Du Wind (Hörspiel für Kinder) - als ”Dietmar Roberg & TSS” (LP Rotbuch-Verlag, als CD auf Möbius Rekords/Buschfunk wiederveröffentlicht)
1976: Paranoia (Theatermusik) - als ”Rote Rübe & TSS” - Musik von TSS, Gesang vom Kollektiv Rote Rübe (LP DVP/KRR 1)
1977/1991: Mannstoll - (Theatermusik) - als ”Brühwarm & TSS” - Musik von TSS, Text & Gesang vom Brühwarm (LP DVP 006 - CD DVP/Buschfunk)
1978: After Punk Show (Theatermusik) - als ”Transplantis & TSS” - (Nur auf Kassette erschienen: MC DVP/Stechapfel)
1979/1991: Entartet - (Theatermusik) - als ”Brühwarm & TSS” - Musik von TSS, Text & Gesang vom Brühwarm (LP DVP 016 - CD DVP CD 016)
1979: Liebe Tod Hysterie (Theatermusik) - als ”Rote Rübe & TSS” - (Nur auf Kassette erschienen: MC DVP/Stechapfel)

Filme

1998 Ich Bieg Dir’n Regenbogen
Regie: Peter Möbius und Hanno Brühl

2000 Scherben in Friesland. Video Tagebuch 1974-1978
von Egon Bunne,

2001 Der Traum Ist Aus Oder Die Erben Der Scherben.
Regie: Christoph Schuch. 92 Min.

2002: Land In Sicht
Scherben-Konzert vom 30. Mai 1983 in Offenbach, Bonustracks Hamburg und Essen, Fresenhagen, Interview mit Rio Reiser, Biographie, Fotogalerie, 149 Minuten, digital remastert - es gab eine limitierte Erstauflage mit Bonus-CD und 16 Seiten Booklet mit allen Texten aller Songs auf der DVD) (eye tune productions)

Und im Fernsehen

Feb. 1982 Rockpalast (Hamburg, Markthalle)

Jenseits von Eden - Ich will nicht werden was mein Alter ist - Durch die Wüste - Halt Dich an Deiner Liebe fest - Kleine Freuden - Der Traum ist aus - Wir müssen hier raus - Rauch-Haus-Song - Allein machen Sie Dich ein - Keine Macht für Niemand - Der Turm stürzt ein - Irrenanstalt - Wenn die Nacht am tiefsten

19.05.1982 Rock Aus Dem Alabama

Jenseits von Eden - Durch die Wüste - Heut´ Nacht - Mein Name ist Mensch - Keine Macht für Niemand - Wenn die Nacht am tiefsten - RIO REISER 20.10.86: Alles Lüge - Ich leb doch - Der Traum ist aus - Halt Dich an Deiner Liebe fest